eine Kurzgeschichte von
Michael Buttler
17.
Oktober 1891
Mein
liebes Tagebuch, heute muß ich Dir von dem jungen Mann erzählen, den ich heute
morgen im Laden von Herrn und Frau Fiedler traf. Ich wollte nur ein bißchen
weißes Wollgarn einkaufen und war gerade am Bezahlen, als er durch die Tür
trat. Er ist hochgewachsen und schmal. Sein Gesicht wirkt asketisch wegen
seiner hohen Wangenknochen. Er hat schwarzes Haar und schwarze Augen. Sein Gang
läßt große Selbstsicherheit erahnen. Er hat keinen Bart und eine so dunkle
Stimme, die nicht zu seiner Jugend passen will. Sie klingt wie fernes
grollendes Gewitter und hat dabei einen eigenartigen Akzent. Ich habe bisher
noch nie einen Mann mit einer ähnlichen Ausstrahlung getroffen. Selbst Frau
Fiedler mußte sich zusammennehmen, um ihn nicht dauernd anzustarren; ich habe
das genau beobachtet. Aber ihr Mann hat davon nichts bemerkt, so glaube ich
wenigstens. Das wäre sonst nicht gut für Frau Fiedler, denn man erzählt sich,
daß ihr Mann sehr eifersüchtig und jähzornig sei.
Aber
was erzähle ich Dir hier über die Fiedlers, wo mich doch dieser Fremde so
fasziniert hat. Ich vermute, er ist sehr wohlhabend, so wie er gekleidet war.
Er trug einen teuren maßgeschneiderten schwarzen Anzug, ein weißes Hemd aus
strahlender Seide und ein schwarzes Tuch aus dem gleichen Stoff mit einer
goldenen Nadel, die mit einem großen Brillanten gesetzt war um den Hals. Er ist
reifer und stattlicher als alle jungen Männer, die ich bisher kennengelernt
habe. Er ist charmanter als alle anderen, daß weiß ich, obwohl ich ihn nur
einmal kurz gesehen habe. Mein Herz hat wild gepocht, als ich an ihm vorbei
ging und fast fluchtartig den Laden verließ, da ich glaubte, rot geworden zu
sein.
Ich
schäme mich jetzt noch für meine Gedanken, vor allem Wilhelm gegenüber, der
sich so lange schon um mich bemüht, und der wahrlich kein schlechter Mensch
ist. Ich wollte bei ihm meinen Widerstand bald aufgeben und seine Bitten
erhören. Selbst meine Eltern wären damit einverstanden. Doch seit heute morgen
sind meine Sinne verwirrt. Ich habe ein schlechtes Gewissen, kenne ich diesen
Mann doch kaum. Morgen sehe ich Wilhelm wieder, denn er will mit mir im Park
spazieren gehen.
Wahrscheinlich
bin ich nur eine alberne Närrin, denn dieser gutaussehende Fremde hat bestimmt
schon eine Frau. Und wenn nicht, so laufen ihm so viele Mädchen hinterher, die
viel hübscher und gebildeter sind als ich, daß er mich überhaupt nicht beachten
würde. Ja, wahrscheinlich spielt er sogar mit ihnen. Diese Sorte Männer kennen
meist keine Skrupel in Herzensangelegenheiten. Ich glaube, ich kann froh sein,
daß Wilhelm so anständig und gefühlvoll ist.
Ja,
ich werde wieder vernünftig und freue mich auf morgen.
Gute
Nacht, liebes Tagebuch.
18.
Oktober 1891
Was
war das für ein schöner Tag! Wilhelm holte mich um zwei Uhr mit seiner Droschke
ab und brachte mir wieder einmal einen großen Strauß mit wunderschönen Rosen,
obwohl ich diesem Kindskopf gesagt hatte, daß er dies lassen soll. Ich weiß
schon gar nicht mehr wohin mit den Blumen. Obwohl, ich muß gestehen, daß es mir
immer wieder schmeichelt. Und warum sollte er auch auf eine Frau hören, mit der
er noch nicht verheiratet ist?
Du
gütiger Himmel, was habe ich da eben geschrieben! Er hat mich zwar noch nicht
gefragt, aber seine Absicht ist zu offensichtlich und ich befürchte, ich werde
allzu schnell einwilligen. Dabei ziemt sich das doch nicht. Ich muß überlegter Denken
und Handeln, sonst blamiere ich mich noch.
Ach,
es war so schön heute im Park; ein herrlicher Tag. Die Blätter der Bäume und
Sträucher waren teilweise goldgelb oder schimmernd rot gefärbt und strahlten im
Licht der immer noch wärmenden Sonne. Überall lagen Kastanien herum, und einmal
fiel eine direkt vor meine Füße. Ein Eichhörnchen hastete geschwind hinter
einem Baum hervor über den Weg und kletterte an einem anderen Kastanienbaum
wieder hoch.
Am
kleinen See fütterten wir die Enten und sahen ihnen begeistert zu, wie sie
gierig nach den Brotkrumen schnappten. Wilhelm hielt dabei meine Hand. Wir
waren überglücklich. Ich sah es an seinen Augen, die wie der helle Nordstern
leuchteten und spürte es an meinen geröteten Wangen und Ohren und an dem Pochen
meines Herzens. Ein älteres Ehepaar kreuzte unseren Weg und lächelte uns
wissend freundlich an. Die Frau zwinkerte mir kurz zu. Ich war wie im Rausch.
Die Zeit verging viel zu schnell.
Was
war ich doch für eine Närrin gewesen, daß ich gestern noch für kurze Zeit an
meinen Gefühlen für Wilhelm gezweifelt hatte. Danke, lieber Tag, daß du mir
heute den rechten Weg gewiesen hast.
19. Oktober 1891
Anna
hat heute Geburtstag und gibt am Abend wieder einen Ball. Wie ich sie beneide.
Ihre Eltern sind so wohlhabend, daß Anna jedes Jahr an diesem Tag einen Ball
geben darf. Ich würde das auch so gerne machen. Wenn Vater doch nur nicht so
geizig wäre, denn arm sind wir weiß Gott auch nicht. Es kommen bestimmt wieder
dreihundert Gäste. Annas Familie ist ja so angesehen in der Stadt. Aber das
kommt bestimmt daher, daß ihr Vater das größte Handelshaus der Stadt hat. Ich
habe meine Einladung aber wegen der innigen Freundschaft bekommen, die uns
schon seit so vielen Jahren verbindet. Und sie ist so rücksichtsvoll, Wilhelm
auch einzuladen, obwohl sie ihn so gut wie nicht kennt. Dann können wir uns
endlich wieder zusammen unter vielen Leuten zeigen, damit alle sehen können,
wie glücklich wir sind.
Meine
Schneiderin hat mir heute morgen das Kleid gebracht. Es sieht noch schöner aus,
wie ich es mir vorgestellt hatte. Die Schneiderin hat sich diesmal selbst
übertroffen. Das Kleid ist rosa und hat ein sündiges Dekolleté, das mit weißer
Spitze bestickt ist. An den Ärmelbündchen und am Abschluß ist ebenfalls weiße
Spitze aufgenäht. Dazu passend werde ich mir eine Schleife in das Haar binden.
Es ist das hübscheste Kleid, daß ich jemals besaß.
Bestimmt
wird das ein schöner Ball, besonders wenn Wilhelm dabei ist. Er holt mich mit
seiner Droschke ab. Ich werde Dir alles berichten. Jetzt muß ich mich aber
langsam umziehen, damit Wilhelm nicht so lange zu warten braucht.
Ich
muß alles jetzt gleich niederschreiben, denn ich habe Angst, daß die
Geschehnisse zu sehr verblassen, bevor ich Dir alles berichten kann.
Schon
jetzt, nur wenige Minuten nach Verlassen des verwirrenden Spiels, das sich
anmaßt, Schicksale zu formen, schweben neblige Schleier in meiner Erinnerung,
die mein Verstand heraufbeschwört, um diese Ereignisse erträglicher für mich zu
machen.
Der
Ball war so prunkvoll und unsere Launen so hervorragend. Ich stellte Wilhelm
allen Bekannten vor, die ihn noch nicht kannten, und er machte so einen guten
Eindruck. Er was so charmant, wortgewandt und weltmännisch, daß ich um ihn
Stolz war, wie noch nie. Er unterhielt sich mit Leuten über Themen, von denen
ich nicht geahnt hatte, daß er so viel von ihnen versteht.
Wir
tanzten so leichtfüßig, wie noch nie. Er führte mich souverän, und ich fügte
mich ihm ganz, verließ mich nur auf ihn.
Der
vorzügliche liebliche Wein und der Punsch taten das Übrige. Bei unserer vierten
Tanzpause hatte ich schon einen kleinen Schwips, den ich nur mühsam
unterdrücken konnte. Doch Wilhelm war mir nicht böse deswegen. Er war sehr
rücksichtsvoll und nachsichtig mit mir. Manchmal fühlte ich mich an seiner
Seite so geborgen, wie damals als Achtjährige, als ich mit Vater auf der
Hochzeit von Cousine Katharina das erste Mal auf dem Tanzparkett gewesen bin, und
er mit mir ausgelassen rum gealbert hatte.
Allein
um Anna tat es mir leid. Sie wartete lange Zeit vergeblich auf ihren Kavalier,
den sie mir natürlich auch vorstellen wollte. Sie schwärmte so von ihm, wie ich
es eigentlich nur von Wilhelm kann. Aber dieser Kavalier enttäuschte sie jetzt
sehr. Ich glaube, daß ihr einmal sogar Tränen in den Augen standen, konnte es
aber nicht genau erkennen, da das Licht so ungünstig fiel.
Aber
um elf Uhr kam er dann doch noch. Als er angekündigt wurde erhellte sich Annas Gesicht.
Dieser Anblick gab meiner Beschwingtheit noch einmal einen Stoß, doch nur für
kurze Zeit, denn Sekunden später bekam ich einen Schreck. Wolfgang van
Holderland, so ist sein Name, war kein anderer, als der reiche junge Mann, den
ich bei den Fiedlers getroffen hatte. Ich konnte es nicht glauben, als er
majestätisch zur Tür hereintrat, direkt auf Anna zu, und sie charmant begrüßte.
Ich kann mir nicht erklären warum, aber ich vergaß sofort Wilhelm an meiner
Seite. Der Arme. Die Freude für Anna schlug plötzlich um. Eifersucht krampfte
sich schmerzhaft um mein Herz. Ich gönnte Anna diesen Mann nicht. Es ist völlig
absurd, jetzt, da ich wieder zu Hause bin, und ich dieses Bild vor meinen Augen
habe.
Anna
stellte uns vor. Er war nur Gast in Wiesbaden und wohnte in einem Hotel. Er
begrüßte mich ebenfalls sehr höflich. Unsere Blicke trafen sich. Mir schien es
so, als wollte er mich mit ihnen bannen. Er sah mich an, starrte mich an.
Wilhelm fiel das auf. Ich spürte den sanften Druck, mit dem er mich zur Seite drängte,
weg von van Holderland, der sich nun wieder Anna zuwandte.
Wilhelm
und ich tanzten wieder, doch es war nicht mehr so wie vorher. Herr van
Holderland irritierte mich. Immerzu mußte ich wissen, wo er sich aufhielt und
was er machte. Ich suchte ihn ständig und ließ mir Wilhelms Berührungen nunmehr
gefallen, statt sie zu genießen, hörte ihm nicht einmal mehr richtig zu. Und
auch Herr van Holderland suchte mich. Er war nie mehr als zehn Schritte von mir
entfernt und schaute mir sehr oft in die Augen. Auch Anna bemerkte dies, doch
das war mir nicht peinlich oder gar unangenehm. Vielmehr hatte ich das sündige
Gefühl der Schadenfreude.
Irgendwann
forderte mich Herr van Holderland zum tanzen auf. Die Musik spielte gerade
einen englischen Walzer. Ich tanzte noch besser, als zuvor mit Wilhelm. Später
umfaßte mich sein Arm so unglaublich unverschämt, wie mich selbst Wilhelm noch
nie berührt hatte. Dieser wurde daraufhin laut. Wütend trennte er uns und
beschimpfte Herrn van Holderland auf das Ärgste, schlug ihn mit der Faust ins
Gesicht und zerrte mich an der Hand nach draußen. Natürlich hatten das viele
der anderen Gäste mitbekommen und empörten sich lautstark über dieses
Verhalten. Doch das bekam ich nur am Rande mit. Erst in der Droschke fiel die
Trance von mir, die meine Sinne umwoben hatte.
Ich
verstehe mein Verhalten nicht mehr. Scham und Trauer erfüllen mich, wenn ich
darüber nachdenke, was ich meinem lieben Wilhelm und meiner Freundin angetan
habe, da ich mich nicht gewehrt hatte. Noch beim Abschied bat ich Wilhelm
verzweifelt um Verzeihung. Er grollt mir, doch wer will es ihm verdenken?
Ich
hoffe, nun etwas Schlaf zu finden. Vielleicht wird Wilhelm großzügig Nachsicht
zeigen, obwohl ich ihn in aller Öffentlichkeit bloßgestellt habe. Liebes
Tagebuch, ich appelliere an seine Großmut.
20. Oktober 1891
Die
ganze Nacht und den ganzen Tag schon weine ich. Meine Eltern und das
Hausmädchen fragen mich wegen meiner Trauer, doch ich kann es niemandem
beichten. Ich warte auf ein Zeichen von ihm, von Wilhelm. Keine Beschäftigung
kann mich ablenken. Ich zergehe in meinem Schmerz.
Ein
großer Strauß mit Rosen wurde soeben geliefert. Ich war wieder überglücklich,
denn ich dachte an ein Zeichen von Wilhelm. Doch in der beiliegenden Karte
steht: „Ich bitte um ein Treffen heute um drei Uhr am Brunnen des
Schloßplatzes. W.v.H.“
Diese
Initialen sagen mir, wer diese Bitte vorbringt. Ich weiß nicht, was ich machen
soll. Gehe ich hin, so ist das nicht loyal gegenüber Wilhelm. Andererseits,
vielleicht hat Herr van Holderland vor, sich zu entschuldigen und hat Wilhelm
ebenfalls dorthin bestellt. Das hätte er aber wenigstens andeuten können. Alles
in allem, es wäre nicht recht, dieser Bitte nachzukommen. Aber meine Neugierde
siegt. Ich werde hingehen.
Oh,
mein liebes Tagebuch, was habe ich getan! Wie die Male zuvor fällt auch jetzt
erst der Zauber von mir ab, nachdem ich mich von Herrn van Holderland
verabschiedet habe.
Er
hatte schon auf mich gewartet und umarmte mich sofort! Er gab sich so vertraut,
wie es nicht einmal Wilhelm macht. Und ich ließ es geschehen! Ich dachte nicht
mehr an Wilhelm oder Anna, sah nur noch ihn, spürte ihn. Er redete die ganze
Zeit, erzählte von seiner Heimat Nordholland, wo er sein großes Haus in der
Einsamkeit des Landes besitzt, von den Windmühlen, die überall zu finden seien,
von den riesigen Schafherden, die über das flache Land ziehen, von den Stürmen,
die von der See bis weit in das Land eindringen und das Verweilen am heimischen
Kaminfeuer zu einem wohligen Vergnügen machen. Die Zeit verging so rasch im
Park, durch den wir spazierten, daß es fast an Zauberei grenzte. Plötzlich
stand die Sonne schon sehr tief. Er schickte mich dann nach Hause, doch ich
wollte nicht von seiner Seite weichen. Es kostete mich große Überwindung, die
ich mir nun nicht mehr erklären kann. Was ist das für ein Mensch, den diese
unheimliche Aura umgibt, der solch einen gewaltigen Einfluß auf mich hat?
Morgen
muß ich mit Anna reden. Sie kennt ihn ebenfalls, wahrscheinlich besser als ich.
Hoffentlich verzeiht sie mir mein Verhalten. Vielleicht hilft mir eine
Aussprache mit ihr, um meiner Gefühle wieder Herr zu werden.
21.
Oktober 1891
Ich
war bei Anna und erzählte ihr von meinem Leid. Sie war verärgert, was ich
verstehe. Doch sie zeigte Verständnis für meine Lage und fühlte mit mir, als
hätte sie alles selbst miterlebt. Wie glücklich ich bin, solch eine Freundin zu
haben! Später berichtete sie, das ihr es in seiner Gegenwart ähnlich ergeht wie
mir. Doch anders als ich braucht sie kein schlechtes Gewissen zu plagen wegen
eines anderen Mannes. Sie war mehr über Herrn van Holderland empört, als über
mich und weinte sogar. Aber wie sollte ich sie trösten, die ich ja selbst kaum
besser bin als dieser Mann.
Anna
verzieh mir, da sie um den Einfluß von Herrn van Holderland nur zu gut weiß und
tröstete am Ende mich.
Wir
beschlossen, daß wir ihn zur Rede stellen werden. Anna wird ein Treffen mit ihm
vereinbaren.
Von
Wilhelm habe ich immer noch keine Nachricht.
22. Oktober
1891
Ich
fand letzte Nacht wieder wenig Schlaf, da meine Gedanken wie ein springender
Ball durch meinen Kopf hüpften und mir so keine Ruhe ließen. Wie wird Herr van
Holderland auf die Aussprache reagieren?
Anna
besuchte mich. Sie hat eine Nachricht zu Herrn van Holderland bringen lassen.
Die Antwort darauf brachte der Bote gleich auf dem Rückweg wieder mit. Er
willigte ein, Anna am morgigen Tag zu treffen und schlug als Ort das Kaffeehaus
am Kasino vor. Anna ließ ihrerseits sofort die Zustimmung überbringen. Wir
waren – nein, sind immer noch – sehr aufgeregt und sprachen uns ab.
Meine
Mutter bemerkte meine Traurigkeit und sprach mich wegen Wilhelm an. Die Gute
möchte doch nur mein Bestes und versucht, mir zu helfen. Ich wollte und konnte
ihr nichts berichten. Du wirst mich verstehen, mein Tagebuch, denn ich wollte
zuerst auf eine Reaktion von Wilhelm warten, auf die ich noch hoffte. Zum
Abendmahl kam dann ein Strauß Rosen. Aufgeregt suchte ich nach der Karte und
klappte sie auf. Mein Hoffen und Bangen
wurde schließlich erlöst. Die Rosen waren von Wilhelm. Er bittet mich um ein
Zeichen meiner Zuneigung. Er möchte, daß ich am Abend eine brennende Kerze in
mein Fenster stelle.
Ich
werde nun zu Bett gehen. Die Kerze steht schon bereit. Ich zünde sie gleich an.
Liebes
Tagebuch, heute nacht kann ich wieder süß träumen.
23. Oktober 1891
Wie
schrecklich dieser Tag doch begann. Als
ich erwachte war die Kerze erloschen und kaum heruntergebrannt. Das Fenster,
gestern noch fest verschlossen, stand weit offen, und als ich hinaus schaute,
da sah ich meinen armen Kater Carlos auf den Pflastersteinen liegen. Ich
erkannte sofort, daß er tot ist. Seine Kopf war seltsam verrenkt und blutig.
Der arme Carlos. Dabei konnte ihm eigentlich ein Sprung aus dem ersten
Stockwerk nichts anhaben. Ich muß es wissen, denn ich habe ihn schon mehr als
einmal dabei beobachtet.
Als
Vater ihn aufhob, erkannten wir dann, daß die Kehle brutal aufgeschlitzt war,
aber kaum Blut auf dem Pflaster lag. Mein Gott, wie konnte das nur geschehen?
Auf
unserem Weg zum Kurhaus berichtete ich Anna von diesem grauenvollen Vorfall.
Sie war ebenfalls schockiert.
Herr
van Holderland saß schon an einem Tisch, als wir das Kaffeehaus betraten. Er
schien nicht sonderlich verwundert darüber zu sein, daß ich in Annas Begleitung
war. Er fragte nicht danach fast so, als hätte er es erwartet.
Beinahe
augenblicklich zu seiner Begrüßung scheiterte unser Vorhaben. Wir hatten uns
darauf konzentrieren wollen, hatten es uns fest vorgenommen, nicht in diesen
Rausch zu verfallen, der sich bei van Holderlands Nähe jedesmal einstellte,
doch es gelang uns nicht. Wir vergaßen einfach unsere Rede, die Worte, die wir
genauestens einstudiert hatten und hörten statt dessen ihm zu. Er erzählte die
ganze Zeit von seinem Haus, seinem Landbesitz und von der Art, wie man in
seiner Heimat lebt, und noch von vielen anderen Dingen, an die wir uns nicht mehr
erinnern können. Wieder einmal verfielen wir in Trance und ließen alles über
uns ergehen. Seine gespenstische Macht war diesmal ungleich stärker als die
Male zuvor. Auch nach dem Abschied brauchten wir viel länger als sonst, um
wieder zur Besinnung zu kommen.
Peinliches
Schweigen begleitete uns auf dem Heimweg. Alles ist nun noch diffuser als
zuvor. Unsere Mission ist fehlgeschlagen.
24. Oktober 1891
Ein
seltsamer Traum begleitete mich in dieser Nacht. Irgendwann glaubte ich in der
Zwischenwelt von Schlaf und Wachsein zu dämmern, als ich das leise zärtliche
Klopfen an meinem Fenster hörte. Halb schlafend stand ich auf und zog Vorhänge
zur Seite. Ein großer dunkler Vogel schlug mit seinen Flügeln an mein Fenster,
als bitte er um Einlaß. Ich stand nur da und beobachtete ihn. Wieder war ich
nicht Herr meiner selbst. Ich trat einen Schritt zur Seite. Das Fenster öffnete
sich, ich erinnere mich nicht, es berührt zu haben, und gleichzeitig verlöschte
die Kerze, die ich hoffnungsvoll am Abend wieder ans Fenster gestellt hatte.
Der Vogel flog ins Zimmer herein und verharrte auf der Sitzfläche des Stuhls.
Danach geschah etwas mit ihm. Ich erinnere mich nur noch an einen massigen
Schatten, der mir entgegen wuchs, an glitzernde stechende Augen, die mich
anstarrten und an einen bestialischen Gestank, der mir den Atem raubte. Ich
erkannte dichtes Fell, daß seidig schwarz im schwachen Mondlicht glänzte. Dann
wachte ich erschrocken und in Schweiß gebadet auf. Mein erster Blick glitt zum
Fenster, das offen stand. Die Kerze war nur gering abgebrannt und der Stuhl
umgekippt!
Ich
hoffe, nicht zu einer Schlafwandlerin geworden zu sein, aber was kann diese Geschehnisse
sonst erklären?
Anna
kam kurz nach dem Mittagessen. Sie war unglaublich blaß. Ihre Hände zitterten
und ihre Stimme klang krächzend. Ich fragte sie danach, was sie bedrücke, doch
sie wollte mir nur soviel sagen, daß ihr Kanarienvogel gestorben sei. Und
selbst diese Worte, die gefüllt waren von Ekel und Abscheu, brachte sie nur mit
Mühe heraus.
Nun
erzählte ich ihr von meinem Traum, worauf sie noch entsetzter dreinblickte. Sie
hatte mir längst nicht alles erzählt, was bei ihr vorgefallen war, das spürte
ich. Ihr Gesicht sah aus wie das einer Toten. Ich sorgte mich um sie, hielt
ihre Hand und strich über ihre erhitzten Wangen.
Ihr
trüber Blick klärte sich plötzlich. Schließlich sprang sie auf, faßte mich an
der Hand und führte mich hinaus auf die Straße. Sie hatte es so eilig, daß wir
nicht einmal mehr unsere Mäntel überstreiften. Die gute alte Mathilde schaute
uns nur kopfschüttelnd nach. Ich glaube, sie zweifelte an unserem Verstand, wie
wir Hand in Hand an ihr vorbei hetzten. Wir nahmen Annas Droschke, die auf sie
gewartet hatte. „Zur Hessischen Staatsbibliothek, schnell“, rief sie dem
Kutscher zu und zerrte mich neben sich auf den Sitz. Die Hufe der Pferde
klapperten im nächsten Augenblick hastig über das Pflaster und der Fahrtwind
ließ mich frösteln. Anna schien die herbstliche Kühle überhaupt nicht zu
spüren. Wie gebannt starrte sie nach vorne und hielt noch immer meine Hand, nun
aber so verkrampft, daß ihre Fingerknöchel weiß hervortraten und sie meine
Finger bald zerquetschte. Doch ich beschwerte mich nicht. Ich durfte sie jetzt
nicht stören oder gar aufhalten, wußte, daß ich mich nun völlig auf sie
verlassen konnte, ja sogar mußte.
Mit
einem starken Ruck hielt die Droschke. Wir waren am Ziel. Allmählich griff
Annas Erregung auf mich über. Als wir schließlich überhastet von der Droschke
sprangen und die Stufen der Bibliothek hinaufliefen, da wußte ich, was Anna
vorhatte. Es war alles so klar, als hätte sie mir selbst davon erzählt, und ich
schalt mich selbst eine Närrin, daß ich nicht selbst darauf gekommen war.
Wir
betraten die Abteilung Völkerkunde und wandten uns sogleich den Büchern zu, die
Holland als Thema behandeln. Es gab nicht viele Bücher, die interessant waren.
Eines allerdings war eine Chronik sämtlicher Adelsfamilien. So fanden wir sehr
schnell die Chronik der Familie van Holderland. In deren Wappen war ein
schwarzer Wolf abgebildet, der auf dem Rücken einen großen schwarzen Vogel
trug. Dieser Anblick versetzte mir einen schmerzhaften Stich in meiner Brust.
Diesen Vogel hatte ich schon gesehen, bevor er sich in dieses düstere Wesen
verwandelt hatte. Nun erst wurde mir auch bewußt, wessen blitzende Augen mich
letzte Nacht angestarrt, wessen Fell im fahlen Mondlicht geglänzt hatte. Ich
ahnte, was Anna vermutlich schon die ganze Zeit über wußte: Der Wolf und der
Vogel waren das gleiche Geschöpf. Die Geschehnisse der letzten Nacht waren kein
Traum gewesen, sondern Wirklichkeit. Diese Erkenntnis traf mich mit der Wucht
eines Pferdetritts. Anna erging es nicht viel anders. Ich hörte ihr Stöhnen
neben mir. Wir preßten unsere zitternden Körper aneinander, um uns gegenseitig
zu beruhigen.
Es gab
nicht viel zu lesen, denn gemäß dem Artikel gibt es kaum Unterlagen, was die
Familie van Holderland betrifft. Nur der Name Wolfgang van Holderland ist noch
bekannt, aber weder, wer seine Eltern sind, noch sein Geburtsdatum.
Ich
klappte das Buch wieder zu. Das waren nicht viele Neuigkeiten, und doch sagte
uns das Wenige so viel. Verwirrt und unsicher sah Anna mich an. Mir erging es
nicht besser.
„Irgendwas
will er von uns beiden“, sagte sie. „Er hat uns beide gefunden und nun kann er
sich nicht entscheiden.“
„Wie
meinst du das“, fragte ich sie.
„Er
sucht eine Frau, warum sonst sollte er so lange Gast in dieser Stadt sein
wollen. Wären Geschäfte der Grund, so hätte er gewiß nichts mit mir angefangen,
und mir dir. Aber wieso kümmerte er sich zuerst nur um mich, bis er dich
zufällig kennenlernt und versucht anschließend mit seiner eigenartigen
Ausstrahlung eine Verlobung auseinander zu bringen, was kein feiner Herr tun
würde? Wieso hat er derartige Macht über uns und läßt sie nur bei uns spielen,
wenn er damit doch unzählig viele und gewiß auch hübschere junge Damen als uns
beide einfangen könnte?“
Wir
sahen uns einen Augenblick in die Augen und wußten plötzlich beide um das Warum
und das Wieso.
Es war
schon so viele Jahre her seit der Nacht auf dem Dachboden, als Anna bei uns
übernachtet hatte. Ich glaube, wir waren damals zehn oder elf Jahre alt
gewesen. Es war in der Nacht, als meine Eltern in der Oper waren und nur Marga,
das Hausmädchen, noch im Haus war. Sie ging früh schlafen. Wir dagegen waren
noch lange wach. Wir unterhielten uns sehr lange. Doch irgendwann wurde es uns
langweilig, und wir geisterten auf Zehenspitzen durch das Haus. Es war nur noch
ein paar Tage bis zu meinem Geburtstag; eine günstige Gelegenheit heraus zu
finden, was ich denn wohl geschenkt bekommen würde. Wir gingen auf den
Dachboden, dorthin, wo ich im Jahr zuvor fündig geworden bin. Doch diesmal
fanden wir nichts am alten Platz. So suchten wir weiter, bis wir schließlich
auf eine große Kiste stießen. Wir öffneten den Deckel und fanden nur alte
Sachen wie Kerzenhalter, Tischdecken und eine kleine Kaminuhr, die nicht mehr
funktionierte. Und ganz unten lag das Buch. Der Einband fehlte, sowie etliche
Seiten, die irgendwer herausgerissen haben mußte. Neugierig blätterten wir
darin und lasen einige Absätze, die uns ängstlich werden ließen. Eigenartige
Dinge, Prophezeiungen und Beschwörungsformeln standen dort, Anleitungen zu
unheiligen Handlungen, die sich allem widersetzten, was wir bisher über Ethik
gelernt hatten. Aber die Neugier siegte, so daß wir uns einer Anleitung
intensiv widmeten. Aus der Küche holten wir Kerzen, aus meinem Zimmer einen
Kreidestift und aus dem Schlafzimmer meiner Eltern eine Nadel. Wieder auf dem
Dachboden malten wir einen Kreis auf die Holzbohlen und Zeichen drum herum,
Zeichen, die wir nicht kannten, uns das Buch aber vorschrieb. Die Kerzen
stellten wir in einer eigenartigen asymmetrischen Weise zwischen die Zeichen. Nun
stachen wir uns mit der Nadel in die Fingerkuppen und ließen jeder ein paar
Tropfen Blut in die Mitte des Kreises tröpfeln. Wir verließen den Kreis wieder.
Anna las die Beschwörungsformel vor, die in einer Sprache geschrieben stand,
die wir nicht verstanden. Jetzt, noch schlimmer als damals, fahren mir bei
diesen Gedanken noch immer eisige Schauer über den Rücken bis hinauf zum
Genick. Als Anna endlich geendet hatte, warteten wir, was geschehen würde. Wir
wußten nicht, was wir erwarten durften, denn darüber gab es in diesem Buch
keine Angaben. Wahrscheinlich waren sie in der Formel enthalten, oder es hatte
eine wichtige Seite gefehlt. Ich weiß es nicht mehr. Wir standen bald eine
halbe Stunde vor dem Kreis, doch nichts passierte. Enttäuscht, aber auch etwas
erleichtert darüber räumten wir dann wieder alles weg. Damals wußten wir nicht
einmal genau, welchem Zweck diese Beschwörung verfolgen sollte. Heute weiß ich,
wissen wir es besser. Trotz des unspektakulären Ausgangs unseres Abenteuers
mußte da etwas gewesen sein, mit uns etwas geschehen sein. Und Wolfgang van
Holderland weiß es auch. Er hat uns gesucht, zehn Jahre lang, und er hat uns
gefunden. Jetzt kann er sich nicht für eine von uns entscheiden.
25.
Oktober 1891
Ich
trauere, oh Gott, ich trauere. Die Sonne geht auf und wirft ihre Strahlen einem
neuen Tag entgegen. Aber ein lieber Mensch wird ihn nicht mehr erleben können.
Nachdem
Anna und ich die Bibliothek verlassen hatten, brachte sie mich in ihrer
Droschke wieder nach Hause und verließ mich. Auf der Fahrt hatten wir kein Wort
gesprochen, hielten uns nur an den Händen. Zum Abschied blickten wir uns nur
gegenseitig ins Gesicht. Trauer um die endgültige Erkenntnis lag in ihren
Augen.
Ein
kleiner Lichtblick in der Düsternis meiner Gedanken war, daß Wilhelm im Salon
auf mich wartete und sich mit Mutter unterhielt. Sie erkannten meine
Traurigkeit, glaubten wohl aber, daß der Grund dafür mit dem Zerwürfnis mit
Wilhelm zusammenhing. Mutter ließ uns alleine, als ich Wilhelm gegenüber stand.
Er trat auf mich zu und schloß mich in seine Arme, was ich dankbar annahm, da
es mir einen wohliges Gefühl der Geborgenheit verlieh. Ich weinte an seiner Brust,
während er mir zärtlich über das Haar strich. Nach langen Minuten setzten wir
uns. Er wollte zu mir sprechen. Ich unterbrach ihn beim Ansatz und erzählte ihm
jetzt alles. Ich redete mir alle Sorgen von der Seele und beschwor ihn, mir zu
glauben und Anna und mir zu helfen. Er wirkte ungläubig, was ich ihm nicht
verdenken konnte, aber der Gute wollte es verbergen und versprach mir all seine
Unterstützung. Er wollte dieses Buch sehen, so führte ich ihn auf den
Dachboden. Es lag an seinem alten Platz. Mit zitternden Fingern umblätterte ich
Seite um Seite, bis ich endlich diese unheilvolle Stelle fand. Wilhelm las sie
aufmerksam und kam schließlich zu der Stelle, wo die Formel stand. Sie war in
Latein verfaßt. Wilhelm übersetzte sie mir. Was ich nun hörte bestätigte mir
all meine schlimmsten Befürchtungen. Anna und ich hatten uns bösen Geistern zur
Gemahlin versprochen, hatten uns mit ihnen verlobt. Nun war van Holderland
gekommen, um dieses Versprechen bei einer von uns beiden einzulösen. Wilhelm
wurde blaß und sah mich mit großen Augen an. Er nahm mich wieder in die Arme.
Schließlich löste er die Umarmung mit einem entschlossenen Ruck. Er eilte vom
Dachboden hinunter bis ins Erdgeschoß und stürzte ohne Mantel aus dem Haus. Ich
folgte ihm, war aber nicht so schnell wie er. Als ich draußen am Tor stand, da
bog seine Droschke schon um die nächste Ecke. Mein lieber guter armer Wilhelm,
dachte ich, er wird sich für mich ins Verderben stürzten und doch nichts
erreichen können.
Auch
ich war ohne Mantel, doch mein Körper hatte sich durch die Aufregung so
erhitzt, daß ich die Kälte nicht spürte. Eine freie Droschke kam gerade die
Straße herunter. Ich hielt sie auf und nannte dem Kutscher van Holderlands
Hotel als Ziel an. Ich wußte, Wilhelm würde dorthin fahren. Die Minuten wollten
nicht vergehen, und die Droschke schien auf der Straße zu kriechen. Ich mahnte
den Kutscher zu größerer Eile, und er holte dann weiß Gott alles aus seinen
Pferden heraus. Am Hotel hielt ich den Kutscher zum Warten an. Wilhelms
Droschke stand schon da. Ich eilte in das Foyer und fragte den Portier nach dem
Weg zu van Holderlands Zimmer. Er gab mir, wenn auch etwas verwundert,
Auskunft. Ich hastete die geschwungenen Stufen hinauf und erreichte van
Holderlands Zimmer. Die Tür war offen. Wilhelm stand hinter der Tür, so daß ich
ihn nicht sehen konnte. Ich stieß mit ihm zusammen, als ich in das Zimmer
rannte und er unvermittelt hinter einer Ecke vor mir stand.
Der
Anblick, der sich uns beiden offenbarte, ließ mich vor Schrecken erstarren. Im
offenen Fenster saßen zwei große schwarze Vögel, die uns gefühllos anstarrten.
Mitten im Raum lag eines von Annas Kleidern und ihre Schuhe. Sie hat sich für
mich geopfert, dachte ich noch, als die Vögel mit lautem Gekreische ihre Flügel
öffneten und davon flogen, für immer vereint von einer finsteren Macht, die ich
nicht begreifen kann.
Ich
habe die ganze Nacht wach in meinem Bett gelegen und um Anna geweint, die sich für mich geopfert hatte, bis ich keine
Tränen mehr hatte. Jetzt erst kann ich alles aufschreiben, da der Schock etwas
nachgelassen hat.
Ich
hoffe nur, bete zu Gott, daß mich kein zweites Geschöpf wie Wolfgang van
Holderland findet, dem gegenüber ich mein in völliger Unwissenheit gemachtes
Versprechen einlösen muß, bis ich mit Wilhelm vor Gott getraut bin. Denn damit,
so steht es in der unheilvollen Formel, wäre ich von meinem Fluch befreit.
ENDE
Der Geschichte