Der Mann im grauen Flanellanzug stand vor dem prächtigen Tor zum Garten der Villa. Es war ein neues Gebäude – nostalgisch dem alten viktorianischen Baustil nachempfunden. Kein Vergleich mehr zu dem halb verfallenen Mehrfamilienhaus, welches vormals hier gestanden hatte.
Dreimal hatte er namhafte Architekten beauftragt, ein Heidengeld bezahlt und zwei der Entwürfe am Ende frustriert zerrissen. Der dritte endlich schien ihm annehmbar. An – nehm – bar wohlgemerkt, denn zufrieden war er damit noch lange nicht. Erst nach etlichen Korrekturen entwickelte sich die Villa, so wie sie jetzt stand. Ein Ausbund an vorzüglichem Geschmack. Die Häuser ringsum erschienen stumpf und matt gegen ihren Glanz. Nun war es seine Villa!
„Scheiß drauf“ fluchte der Mann. Doch die Worte kamen furchtbar lang gezogen und näselnd aus seinem Mund – er bekam die Betonung nicht richtig hin, so dass er am Ende selbst nicht mehr sicher war, was er da eigentlich hatte sagen wollen.
Ja! Er war betrunken. Stockbetrunken sogar. Das ganze hatte bereits im Labor seinen Anfang genommen – systematisch, nach Plan, wie alles in seinem Leben. Nach dem die Computer die Nachricht ausgespuckt hatten, köpften sie zusammen die erste Flasche Champagner. Champagner – wie verdammt unpassend. Aber das war ihm egal – und jedem seiner vier Mitarbeiter genauso. Zusammen leerten sie fast fünf Flaschen teuersten Dom Peregnon.
Es war erst im vergangenen Herbst gewesen, als Nil Raterson – einer seiner jüngeren Mitarbeiter unter viel „Hallo“ den roten Coca Cola Kühlschrank ins Institut gebracht hatte. Raterson lachte darüber und lachend hatte er damals auch den Kühlschrank angeschlossen – in denselben Steckdosenverteiler übrigens, der über meterweise Verlängerungskabel auch den großen Netzwerk-Hauptcomputer mit Strom versorgte. Der Bildschirm hatte kurz geflackert, als er Stecker und Dose zusammenführte, verschwamm wegen des plötzlichen Spannungsabfalls im Netz sogar für einen winzigen Augenblick zu rauschendem Grau, ehe er wieder in leuchtendem Grün die Sattelitenbilder des Hubble- Weltraumteleskops übertrug.
Als man Raterson fragte, was der ganze Aufwand zu bedeuten habe, da lachte er erneut. „Nun! Für den Champagner“ antwortete er dann, als wäre das die offensichtlichste Sache der Welt. „Wenn der Sternschnuppenhagel erst einmal einsetzt, wie wir es angekündigt haben“ erklärte er dann mit erhobenem Zeigefinger „sind wir endgültig am Ziel. Gemachte Männer! Dann ist aller Welt bewiesen, wie leistungsfähig unser neues Sicherheitsprogramm ist. Na, auf einen besseren Grund zum Feiern können wir lange warten.“ Daraufhin lachte er wieder – laut und schallend.
Seither stand der Coca – Cola Kühlschrank im Rechenzentrum – nicht in der Kaffee-Küche, wo er eigentlich hingehört hätte. Das farbenfrohe Gerät fiel in dem in sterilem Weiß gehaltenen Raum sofort ins Auge - das Symbol ihres zukünftigen Erfolges.
Der Mann im grauen Flanellanzug klammerte sich an die Gitterstäbe des Gartentores und schüttelte benommen den Kopf, damit seine Gedanken wieder in die Gegenwart zurückkehren sollten, doch machten sie nur einen unbeholfenen Schritt nach vorne. Er sah sich selbst am heutigen Morgen vor dem Hauptcomputer stehen. Doch er sah nicht in den Bildschirm – dort gab es nämlich gar nichts zu sehen, bis auf ein rauschendes Grau. Sein Blick klammerte sich viel mehr an das blinkende rote Lämpchen am unteren rechten Bildschirmrand. „Alarm“ stand darunter.
„Vielleicht ist es nur der Kühlschrank“ bemerkte Nil Raterson und lachte gar nicht mehr. Das war natürlich Unsinn. Ein Hoffnungsschimmer. Wunschdenken! Denn die Wahrheit konnte man kaum begreifen.
Der Frühling war bereits so weit fortgeschritten, dass es noch hell war, als der Mann nach den Champagnereskapaden das Institut verließ. Er suchte gerade die Taschen seines Anzuges nach den Autoschlüsseln ab, als der Polizeiwagen vorbeifuhr. Die Streife kontrollierte den Parkplatz vor dem Institut – patrouillierte die Straße mehrmals auf und ab.
„Wissen sie es etwa schon?“ fragte er sich zweifelnd und schüttelte im nächsten Moment träge den Kopf. Schließlich kannte er selbst das Ergebnis der Auswertung seit kaum einer halben Stunde.
Er setzte sich ins Auto. Nervös zählte er die Minuten hinter dem Steuer. Er war sich im Klaren darüber, dass er bereits zu viel getrunken hatte, um noch sicher fahren zu können. Doch das war ihm egal. Er wollte fahren, er musste fahren. Schließlich blieb nur noch wenig Zeit und er hatte noch so vieles vor.
Einer der beiden Polizisten grüßte ihn freundlich aus dem Streifenwagen heraus – legte in einem Anflug von Coolness einfach zwei Finger an die Stirn. Eine flapsige Geste, doch damit war sicher: sie wussten es nicht – niemand wusste es. Bis auf ihn, seine Mitarbeiter und nach dem Telefonanruf, den er noch im Institut getätigt hatte, inzwischen wohl auch der deutsche Bundeskanzler und vielleicht die eine oder andere Sekretärin in Berlin.
Urplötzlich wurde ihm bewusst, wie auffällig er sich benahm. Schließlich war er eine stadtbekannte Persönlichkeit. Die Leute waren es gewöhnt, ihm die Hand zu schütteln und Worte des Entzückens auszusprechen. Nun hätte er es fast versäumt, diesen einfachen Gruß des Uniformierten zu erwidern.
Mit Bedacht zeigte er ein Lächeln, nickte dem Polizisten freundlich zu.
Endlich. Der Polizeiwagen verließ das Institutsgelände. Nicht besonders schnell, nicht mit Blaulicht. Sie fuhren einfach.
Erleichtert startete der Mann den Motor.
Drei Kneipen und sieben Gläser Wodka Martini später stand er nun vor seiner Villa und betrachtete durch die Gitterstäbe hindurch das große Haus. Es war ihm kaum bewusst, dass er durch seine Trinkerei weit mehr Aufmerksamkeit erregt hatte, als mit einer versäumten Höflichkeit dem Streifenpolizisten gegenüber. Sinnvoll von Unsinnig zu unterscheiden war eine Intelligenzleistung, die er bereits mit dem Champagner weggespült hatte. Er trank selten – nur bei großen Anlässen. Dass er vor lauter Alkohol nicht mehr imstande war, klar zu denken, war noch nie vorgekommen. Was dem noch am nächsten kam, lag Jahre zurück - bei der Abschlussfeier seiner Doktorarbeit, als er erfahren hatte, dass er nicht nur mit Bravour promoviert hatte, sondern mit der Ehrenauszeichnung „Summa Cum Laude“. „Der Name unserer Familie wird durch dich noch Geschichte machen, mein Sohn“ hatte sein Vater damals gesagt und ihm dabei stolz die Hand gedrückt.
Eigentlich hatte er gehofft durch den Vollrausch Vergessen zu finden. Doch was passierte, war einzig dieses: Er vergaß, dass er vergessen wollte. Zurück blieb nur ein dumpfes Gefühl.
„Herrgott, ich schrei es so laut hinaus“ dachte er und wankte dabei unwillkürlich drei Schritte rückwärts „so laut, dass es diese ganze verfluchte Stadt hört.“ Und schon drängelten die Gedanken wie eine Sturmflut zurück in seine Kopf. „Eine Woche. Vielleicht noch ein paar Tage mehr, wenn wir Glück haben. Und ich wollte noch so vieles tun... Gott, warum hast du uns verlassen?“
„Dr. Jonathan Edler – Astrophysiker“ stand in schnörkeliger Silberschrift auf dem Hausschild. Akkurat von einem Neonstrahler beleuchtet.
„Mein Name“ kicherte der Mann, dann rülpste er aus tiefster Seele. „Mein beschissener Name!“
Sein Finger schwebte über dem Klingelknopf. Wer würde öffnen? Der Butler? Oder Roswitha, seine Frau? Wie sollte er ihr erklären, warum er erst so spät nach hause kam. Sicher machte sie sich bereits Sorgen um ihn. Sie machte sich immerzu Sorgen. Sie würde wissen wollen, warum er so betrunken war. Und dann... dann musste er ihr sagen, dass ein riesiger Himmelskörper auf die Erde zusteuerte. So groß wie ganz Amerika. Dass niemand ihn bisher gesehen hat, weil er sich hinter einer ungeheueren Vielzahl kleinerer Meteoriten verbarg, die ihn wie eine Nebelwolke umwabern. Dass er – Jonathan Edler – ihn nur durch Zufall entdeckt hat, weil er mit seinen neuen technischen Geräten den Nachthimmel beobachtet hatte – weil er gehofft hatte der Meteoritenhagel würden endlich die Wirkungskraft seines neuen Sicherheitssystems beweisen.
Seine Zunge klebte unangenehm am Gaumen fest. Einen Augenblick überlegte er, ob er wieder umkehren sollt. Zurück in die Kneipe, um sich noch ein paar weitere Wodka Martini zu genehmigen. Er wankte rückwärts, knickte über den Bordstein, schrie erschrocken auf noch während er fiel.
Im Rinnstein fand er sich wieder. Sein Fuß schmerzte, er hatte sich den linken Ellenbogen aufgeschürft - doch sonst war ihm nichts passiert. Mit Hilfe der Straßenlaterne hangelte er sich wieder hoch. Gewissenhaft sortierte er seine Beine und fand mit Mühe das Gleichgewicht wieder – umarmte das kalte Metall der Laterne wie einen Freund.
Es war ihm am nächsten Morgen, als er wieder nüchtern war, und auch die Tage darauf – die letzten Tage seines Lebens – nicht möglich, sich zu erinnern, wann oder wie genau er auf die Idee gekommen war. Vielleicht tat er es auch einfach nur so, ohne nachzudenken. Aber wie er auch in den Windungen seines Gehirnes kramte, eine Erklärung war ihm nicht möglich. Er öffnete seinen Hosenschlitz, um im nächsten Moment mit vollster Genugtuung auf sein Namenschild zu pinkeln. Er sang dazu – lallend zwar, aber unter der Vielzahl an falschen Tönen konnte man doch die deutsche Nationalhymne noch deutlich heraushören.
Als sich die Haustüre oben an der Villa öffnete, stopfte Jonathan sein bestes Stück hastig in die Hose zurück und war versucht sich in den Schatten der großen Alleebäume davonzustehlen – doch sie hatte ihn bereits entdeckt: Seine Frau Roswitha – im Morgenmantel – ein wenig verschlafen und mit zerzausten Haar. „Jonathan?“ rief sie „Jonathan, bist du das? Ach gut! Endlich! Hast du den Hausschlüssel verlegt? Um Himmels Willen, warum machst du denn so einen Radau? Es ist schon fast ein Uhr morgens – die Nachbarn werden sich beschweren. Hast du das Auto auf der Straße stehen lassen? Der Wetterbericht sagt, es gibt Sturm. Der Mercedes wird zu rosten anfangen. Fahr ihn doch noch in die Garage, ja.“
Jonathan humpelte zurück zu seinem Auto und stieg ein. Der Wagen startete mit quietschenden Reifen und sauste wie ein chromblauer Blitz an der Auffahrt vorbei. Schrammte noch zwei oder drei parkende Autos, bis er endlich die Mitte der Straße fand.
Roswitha stand an der Haustüre und legte erschrocken beide Hände vor den Mund. „Aber Jonathan! Jonathan, was um Gottes Willen machst du denn? Wo willst du hin? Jonathan!“
Es fing an zu regnen.
© Annette Königbaur