Das Fest des Windes

„Bei Gott – ich kann es sehen!“

Die Chessna wurde von einer Windböe durchgerüttelt. Die Maschine flog knapp über der Baumgrenze des Regenwaldes hinweg, aus welchem Dunstschwaden nach oben schwebten, und begann für einen Moment zu torkeln. Die beiden Männer an Bord klammerten sich an die Gegenstände, welche sie gerade erreichen konnten: der Pilot presste seine Hände um das Steuer, bis seine Fingerknöchel weiß durchschimmerten und der bärtige Wissenschaftler, der eben gesprochen hatte, griff nach der Armaturenleiste vor ihm. Vor seinen erstaunten Blicken erhoben sich mehrere Steinköpfe aus dem Grün des Blätterdaches, geradeso als wollten sie mal eben nachsehen, woher der Motorenlärm rührte.

„Tikal! Wie lange war ich schon nicht mehr hier...?“

Der Bärtige kratzte sich am Kinn.

„Soll ich mal einen Zwischenstopp einlegen?“ Der Pilot drehte kurz seinen kahlgeschorenen Schädel in die Richtung seines Passagiers.

„Nein, nein – ich muss noch vor Sonnenuntergang auf der Dschungellichtung von El Alto ankommen. Das „Fest des Windes“ steht kurz bevor – ein bizarres Ritual und kein Wissenschaftler hat es je beobachtet!“

Der Pilot nickte nur und widmete sich wieder völlig der Kontrolle der Chessna. Neben ihm war Andrew Warton mit sich und seinen Gedanken allein.

Schon lange untersuchte der Anthropologe von der Tulane University in New Orleans die Kulturen der Mayas und auf welche Weise sich Reste davon noch bei den wenigen verbliebenen Ureinwohnern auffinden lassen, die nicht allzusehr mit der westlichen Kultur in Kontakt gekommen waren. Vor wenigen Monaten hatte er von einem Projekt der guatemaltekischen Regierung gehört, wonach amerikanische und europäische Archäologen und Anthropologen gesucht wurden, welche den Ureinwohnern deren eigene Kultur wieder nahebringen sollten.

Warton wusste, dass die spanischen Eroberer viele Schriftrollen und Stelen der Maya zerstört oder geraubt hatten, so dass ein ganzes Volk um seine Identität betrogen worden war. Andrew hatte sich als Lehrer der Maya beworben. Wochen später hatte er einen Brief der Regierung Guatemalas erhalten, in welchem er in ein Dorf westlich von Tikal eingeladen wurde.

Ihm wurde ein Führer zur Seite gestellt, José. Dieser Indio begleitete den Professor und dessen Schüler zu den Mayastädten und übersetzte Wartons Englisch in eine der 23 Mayasprachen. Und José war es auch, der Andrew in sein Heimatdorf El Alto, das nördlich von Tikal lag, zum „Fest des Windes“ einlud. Wartons Lehrtätigkeit dauerte nun schon drei Monate und er fand, dass er sich etwas Urlaub verdient hatte, so nahm er Josés Angebot gerne an. Dieser war eine Woche vor Beginn des Festes in sein Heimatdorf El Alto abgereist.

Sofort hatte sich Warton auf seine Bücher gestürzt um mehr über dieses Fest herauszufinden. Wie erstaunt war er, als er bemerkte, dass es nur unzureichend in seinen Büchern beschrieben war – kein Wissenschaftler war jemals dabei gewesen. Alles was bekannt war, war durch Dritte überliefert worden.

Und genau das würde sich ändern. Andrew plante, nach seiner ehrenamtlichen Tätigkeit als Lehrer der Mayakultur, ein wissenschaftliches Buch über das „Fest des Windes“ zu schreiben – im hauseigenen Universitätsverlag konnte er die Rituale der Maya veröffentlichen, auch wenn es möglicherweise keine Menschenseele interessieren würde.

Der Wissenschaftler galt als Spezialist in seinem Fach, aber auch als etwas kauzig und eigensüchtig. Mehrere Unternehmungen nach Mittelamerika hatte er sich vom Dekan finanzieren lassen, was dieser für einen anderen wohl nie möglich gemacht hätte – aber Andrew und der Leiter der Universität waren Schulkameraden, was einiges erklären mochte. Seine Reisen ließen wenig Zeit für Privates. Andrew ging völlig in seinem wissenschaftlichen Eifer auf und das war es auch, was ihn nun an das Seitenfenster der windgebeutelten Maschine zerrte.

„Haben sie das gesehen?“, fragte er den Piloten. Sie waren schon einige Zeit in Schweigen versunken weiter geflogen, so dass der Pilot nun wegen der ungewohnten Unterbrechung der Stille etwas zusammenzuckte.

Dieser brummelte nur im Basstonbereich. Warton sah das als Versuch, ein atonales Verneinen aus der Steinzeit zu imitieren und deutete nach rechts.

„Da hinten! Es war mir gerade so, als hätte ich noch einen Steintempel gesehen...“

„Das kann nicht sein“, brummte der Pilot. „Auf meinen Karten ist fünfzig Meilen nördlich von Tikal nichts verzeichnet!“

Es stimmte. Tikal lag schon lange hinter ihnen, das konnte nicht diese Ruinenstadt sein. Fieberhaft ging Warton die anderen Namen durch: Naranjo, Uaxactún...alles war zu weit weg! Konnte es sein, dass er eine neue Stadt entdeckt haben sollte...aber nein: das Gebiet war doch schon vor Jahrzehnten per Flugzeug vermessen und kartographiert worden! Aber falls doch...? Er notierte sich per GPS die ungefähren Koordinaten auf seiner Landkarte und dankte nochmals dem Satelliten hoch oben dafür, dass er existierte und so präzise Angaben machte – dann beendete er die GPS Verbindung.

„Wir sind da!“ verkündete der Pilot und senkte die Nase des Flugzeugs.

Nach einem kurzen Landeanflug auf einer windgepeitschten Ebene landete die kleine Maschine in einer Staubwolke.

„Hat wohl ungewöhnlich lange nicht mehr geregnet“. Andrew kratzte sich an der Nase.

„Das ist aber nicht schlimm – dann ist wenigstens der Sumpf etwas trockener...ich hatte schon die größten Befürchtungen wegen der Moskitos. Das bleibt mir wohl erspart.“

Der Pilot lächelte nur geschäftsmäßig und brachte die Chessna zum Stehen. Warton bezahlte, ergriff seinen Rucksack und schwang sich aus der Kabine.

„Viel Glück bei ihren Forschungen, Professor! Sie haben meine Nummer?“

„Geht klar! Bye!“

Der Pilot startete direkt durch und bald verschwand die Maschine in der Wolkendecke. Warton sah sich um. Er stand auf der Lichtung, umgeben von den Geräuschen des Dschungels.

„Wo bleibt nur José?“, fragte er sich.

Just in diesem Moment trat José aus dem Schatten der Bäume und ergriff die Hand des Professors.

„Warton, nehme ich an?“

Andrew konnte sich ein Grinsen nicht erwehren.

„Hallo José! Schön, dass du pünktlich bist. Wo sind deine Leute, die Chol?“

Das dunkle Gesicht von José lächelte breit.

„Bitte nennen Sie mich nicht mehr José. Das ist ein spanischer Name – mein Maya Name lautet Pakal. Ich habe ihn nach meiner Rückkehr angenommen.“

„Toll! Du nimmst dir damit ein Stück Identität zurück!“

Pakal lächelte breit.

„Nicht nur den Namen habe ich verändert – auch meinem Katholizismus habe ich abgeschworen, wie die meisten bei uns in El Alto. Wir kehren zurück zu unseren Wurzeln! Aber zu Ihrer eigentlichen Frage von vorhin: Die Chol sind völlig von den Vorbereitungen für das Fest eingenommen. Kommen Sie mit, Mr. Warton, ich zeige es Ihnen. Keine Angst, es ist nicht weit!“

Warton schulterte seinen Rucksack und folgte dem hünenhaften Führer durch das Unterholz. Kaum waren sie ein paar Minuten gegangen, als die Männer auf eine Gruppe Chol stießen, welche mit Baumfällen beschäftigt war.

Pakal wandte sich an den Anthropologen.

„Meine Leute holzen gerade die Bäume für das Windgerüst ab. Fragen Sie nicht weiter, Sie werden bald alles sehen können.“

Die beiden Männer sahen noch eine Weile den Arbeitenden zu, welche mit großer Sorgfalt die gefällten Bäume entzweigten und zerlegten. Dann näherten sie sich dem Chol-Dorf.

„Um was geht es bei diesem Fest des Windes, Pakal!“, fragte Warton, als sie die ersten Häuser passierten.

Der Angesprochene entblößte seine großen Zähne zu einem Lächeln.

„Zu Ehren des Windgottes Ik'tu, einem der vier Söhne des Himmelsgottes Hzamna, werden alljährlich an einem bestimmten Tag Feierlichkeiten abgehalten. Die alten Inschriften lehren uns, dass die Chol dem Windgott Weizen und Mais opfern, indem sie die Körner hoch in die Luft werfen, so dass der Wind diese forttragen kann. Dadurch soll Ik´tu beruhigt werden, damit er nicht die Häuser der Chol verwüstet. Es ist phantastisch, Sie werden schon sehen!“

Der Wissenschaftler folgte dem Führer in eine kleine Hütte, die aus Holzlatten zusammengenagelt und mit Stroh gedeckt war – so wie alle Hütten im Dorf. Am Eingang hing ein Krokodilsschädel, was den Besitzer als Schamanen auswies. Pakal sah das Zögern Wartons und zwinkerte ihm aufmunternd zu, als er die verzogene Lattentür öffnete.

Im Inneren saßen drei alte Männer mit zerfurchten Gesichtern, welche dicken, süßlich riechenden Qualm aus ihren Pfeifen zogen und damit die Luft vernebelten. Die Umrisse der Gegenstände hinter ihnen waren nur noch als Schemen zu erkennen. Einmal glaubte Warton, eine Frau durch die Schlieren wandern zu sehen, aber er konnte es nicht mit absoluter Gewissheit sagen.

Pakal redete mit den Alten, die in lange bunte Gewänder gekleidet waren und nickte mehrmals heftig. Dann antwortete einer der Schamanen und stand auf. Wie auf ein geheimes Kommando folgten ihm die anderen beiden und verließen die Hütte durch einen anderen Ausgang, der irgendwo im Rauch verborgen lag.

„Sie sind nicht besonders erfreut darüber, dass ich einen Fremden zur Zeremonie eingeladen habe. Aber sie tolerieren Sie als Mann des Wissens und hoffen, dass Sie das Ritual nicht stören werden.“

Warton entdeckte ein Zittern in Pakals Stimme. Offensichtlich besaßen diese Schamanen einen außerordentlichen Einfluss auf den Indio. Ihr Wort zählte mehr als der Wille der Regierung, das wusste Andrew. Doch dies an Pakal dem Hünen bestätigt zu sehen, rief in Warton ein ungutes Gefühl hervor. Daraufhin führte ihn Pakal zu seiner eigenen Hütte, die direkt neben der verlassenen Kirchenruine lag.

„Kümmert sich denn niemand mehr um das Gotteshaus?“, wollte Andrew wissen.

Pakal schüttelte den Kopf.

„Niemand glaubt mehr an den westlichen Gott – wir glauben nur noch an die Götter unserer Vorfahren.“

„Wie kam der Umschwung bei dir, Pakal. Vor ein paar Tagen noch, erschienst du mir ein treuer Katholik.“

Der Indio sah zur Seite. Die Unterhaltung schien ihn nervös zu machen.

„Ich wurde über Nacht bekehrt, da ich eine Vision hatte. Aber darüber möchte ich nicht reden, es ist zu persönlich...“

Warton nickte nur. Endlich betraten sie Pakals Hütte.

Sechs Kinder sprangen dem Indio entgegen – Kinderschreie der Freude erfüllten die Luft. Eine untersetzte Frau mit breitem Gesicht nahm Pakals Hand und küsste sie.

„Das sind meine Kinder und Ajpub‘, meine Frau. Das ist Mr. Warton, von dem ich euch schon so viel erzählt habe.“

Zum Glück sprachen alle zumindest ein paar Brocken Englisch, so dass sich für Andrew die Unterhaltung leichter als erwartet herausstellte. Nach dem Abendessen saßen alle zusammen und die Männer rauchten die traditionelle Gastfreundschaftspfeife.

„Pakal, wie lange ist El Alto remayasiert?“, fragte Warton nach einigen Zügen aus der Pfeife.

Der Hüne lehnte genießerisch den Kopf zurück und blies den Rauch an die Hüttendecke.

„Nun, das dürften so ungefähr drei Monate sein. Es begann damit, dass einige Leute aus Maya Kursen ähnlich den Ihrigen zurückkehrten und den anderen beibrachten, was die fremden Lehrer Ihnen gezeigt hatten. Daraufhin bekannten sich immer mehr zum alten Glauben und blieben der Kirche fern. Sie zogen keine Ärzte mehr zu Rat, sondern Schamanen. Sie begannen die alten Schriftzeichen zu verwenden und auch die Mayasprachen zu sprechen. Daraufhin verschwand eines Tages der Pfarrer. Man munkelt, er habe sich vor Gram im Tal erhängt, aber das ist Unsinn!“

„Und als du vor einigen Tagen zurückkehrtest, fandest du alles verändert vor.“ Warton kniff die tränenden Augen zusammen.

„Stimmt – und da hatte ich die besagte Vision. Ich musste einfach mein Leben ändern – vorher war ich ein Nichts, nun bin ich ein Maya geworden!“

Warton lächelte.

„Aber kommen wir zu etwas völlig anderem. Auf meinem Flug hierher habe ich kurzzeitig etwas durch die Bäume gesehen – so etwas wie eine Stadt...“

Pakal nahm die Pfeife aus dem Mund.

„Wo?“

„Sie muss ganz in der Nähe sein!“ Warton beobachtete die Reaktionen seines Führers.

Pakal neigte seinen Oberkörper etwas nach vorne und raunte Andrew zu:

„Das kann nicht sein! Die nächste Tempelstadt ist Tikal, da draußen gibt es nichts mehr!“

Andrew dachte nach.

„Ich weiß“, sagte er nach einer Weile. „Aber trotzdem habe ich etwas gesehen. Egal was es war – ich muss es nachprüfen! Noch heute Nacht!“

Pakal erschrak furchtbar.

„Bei allen Göttern des Mais – nicht! Das dürfen Sie nicht tun! Es ist verboten in der Nacht nach alten Städten zu suchen – die Götter wollen das nicht!“

Warton zwinkerte seinem Vertrauten zu.

„Aber ich weiß, dass du sicherlich hier einige Personen kennst, die sich nicht vor den Göttern fürchten und die bereit wären, eine kleine Expedition von nur wenigen Stunden mitzumachen?“

Pakals innere Zerrissenheit kam durch eine überlange Schweigezeit zum Ausdruck. Als er die letzten Züge des Tabaks genossen hatte, löschte er die Pfeife.

„Es gibt da einige Männer, böse Männer aus dem Dorf jenseits des Tales. Sie respektieren ihre eigenen kulturellen Wurzeln nicht und suchen im Dschungel nach Maya-Keramik, vergessenen Grabstätten und so weiter. Sie wissen sicherlich von der Kunsträubermafia in Guatemala und ihren kleinen Dorfparzellen mit den örtlichen Paten. Wenn jemand etwas über eine noch nicht entdeckte Stadt weiß, dann sind es diese Räuber. Diese würden Sie auch begleiten und führen, da ich für eine derartige Aufgabe aus verständlichen Gründen ausfalle. Aber ich warne Sie, Warton. Das ist ein heikles Spiel, ich kann Ihnen nur dringend abraten!“

Warton überlegte. Er wusste, dass mit Grabräubern nicht gut Kirschen essen war – und doch war es die einzige Möglichkeit, die Sichtung der Stadt zu verifizieren oder zu falsifizieren. Er musste es tun.

 

Einige Minuten später stand Andrew in der verfallenden Kirche. In einer noch unversehrten Ecke des Altarraums standen zwei Mariafiguren mit zum Himmel verdrehten Gesichtern. Irgend jemand hatte ihnen aus Protest Leinenbänder um Augen und Mundpartie gebunden.

Warton fröstelte.

Würden die Räuber kommen? Pakal war nach ihrem Gespräch hinausgegangen und erst ein halbe Stunde später zurückgekommen – mit den Informationen des heutigen Treffpunkts der Grabräuberbande. Nun war der Wissenschaftler allein.

Nach einer Weile packte ihn eine schwielige Hand von hinten und hielt ihm den Mund zu.

„Ein Wort und ...“ Warton fühlte die Spitze einer Machete am Rücken, als man ihn umdrehte.

Sie waren alle da. Fünf junge Männer und ein Patron, erkennbar an seinem dünnen Pfeifchen, das eine feine Rauchlinie in die Nachtluft entsandte.

„Wir haben von deiner Idee gehört“, begann der lokale Mafiaboss in schlechtem Englisch, das gerade noch zum Verkaufen von Diebesgut an ausländische Hehler geeignet war.

„Doch wir wollen teil haben am Lohn. Dabei überlassen wir den Ruhm der Entdeckung dir, Amerikaner, obwohl wir die Stadt schon seit langem kennen. Wir wollen nur das Zeug, das wir wegtragen können, okay? Und du – du darfst zeichnen, aufschreiben, aber eines darfst du nicht: wage es nicht, alte Dinge aus der Stadt mitzunehmen! Sie gehören uns, ist das klar?“

Der Mafiaboss gab dem Mann ein Zeichen, der hinter Andrew stand, und dieser ließ die Waffe sinken. Ohne Machete im Rücken fühlte sich Warton gleich viel besser.

„Geht klar. Aber wir müssen noch heute Nacht losziehen!“

Der Patron nickte und zog an seiner Zigarette.

„Ist gut! Morgen beginnt das Fest und dann sind alle Chol eine Woche lang auf den Beinen – selbst in der Nacht! Da können wir unmöglich durch deren Gebiet schleichen.“

Die Parteien wurden sich handelseinig, der Patron zog sich zurück und die restlichen Männer begannen die Wanderung durch den nächtlichen Dschungel.

Die Geräusche des Regenwaldes begleiteten die Männer, die sich schweigend mit kräftigen Machetenschwüngen ihren Weg durch das Unterholz bahnten. Einmal ließ Warton anhalten, da er geglaubt hatte, den Lufthauch großer Schwingen gespürt zu haben, doch dann schob er die Empfindung auf seine Übermüdung.

Drei Stunden lang kämpften sich die Grabräuber und Warton durch den Wald, als sich das Gehölz lichtete und der Mond eine ebene Fläche mit seinem säurefarbenen Licht übergoss. Warton erschauerte. Er überprüfte anhand seines GPS noch einmal die Koordinaten – alles stimmte: Er stand wirklich vor einer der westlichen Welt noch unbekannten Stadt.

Die Bäume bildeten ein natürliches Dach über der Plaza, so dass das Mondlicht nur in Streifen das Gelände beleuchtete, aber es reichte aus, um zu erkennen, dass es sich um eine Akropolis mit zwei Hauptkomplexen handelte. Zwei Stufenpyramiden standen sich gegenüber, dazwischen lag ein antiker Ballspielplatz, gefolgt von der Plaza, auf der noch einige Stelen als Schattenriss erkennbar waren.

Die Pyramide, welche Warton am nächsten war, erschien ihm am interessantesten. Es war eine Nischenpyramide – unzählige Fenster waren in die massiven Steine geschlagen worden, was der Konstruktion den Anschein von Leichtigkeit verlieh. Gerade wollte Warton darauf zugehen, als ihn einer der Männer festhielt.

„Nicht gehen! Das ist böser Ort.“

Doch Warton entwand sich dem Griff.

„Unser Vertrag endet hier – nehmt das Geld!“

Die Dollarscheine in Andrews Hand wechselten den Besitzer, dann zogen die Räuber weiter zur anderen Pyramide.

„Denkt daran: den Rest des Geldes gibt es nur, wenn ihr mich in einer Stund wieder abholt und zurückbringt!“, schärfte Warton den Männern ein.

Doch diese nickten nur beifällig und waren bald hinter den Stelen verschwunden, in deren verwinkelten Ornamenten Vögel brüteten. Sie wurden aufgestört und flatterten nervös um ihre Nester. Andrew hoffte, dass der Lärm, den sie dabei machten, niemanden neugierig machen würde.

„Wir sind doch mitten im Dschungel! Meilenweit von El Alto oder sonst einem Dorf entfernt – wer könnte denn etwas hören?“

Er lächelte nachsichtig mit sich selbst und betrat den Eingang der Pyramide. Hier herrschte noch ein wärmeres Klima als draußen. Die angestaute Hitze des Tages schwebte noch durch die warmen Mauern. Warton schlich durch den Hauptweg und kam an den zentralen Schacht. Hier schraubten sich endlose Treppenstufen ins Nichts – viele Pyramiden waren niemals fertig gebaut worden. Jeder Maya-König hatte sie nach eigenen Plänen überbauen lassen.

Oben funkelten die Sterne durch ein Loch an der Decke, das einstmals astronomischen Berechnungen gedient haben mochte. Unten gähnte ein bodenloser Abgrund in tiefschwarzer Nacht.

Als Andrew an diesem Schacht stand, fühlte er einen Sog, der von tief unten zu kommen schien. Ihm war so, als wolle ihn eine unsichtbare Macht packen und hinunterziehen.

„Unsinn, barer Unsinn. Ich bin nur überwältigt von der Schönheit der Bauwerke und der geschichtlichen Bedeutung dieses Orts...“

Weiter kam er nicht.

Im nächsten Moment spürte er, dass sich der Sog umkehrte und zu einem Luftzug wurde, der direkt an ihm vorbei strich. Die Luft trug dabei einen unirdischen Ton mit sich – Andrew kam es vor wie eine Art Vibrieren des Sauerstoffs – ein Flirren der Atome. Menschliche Worte können die bizarre Beschaffenheit dieser Schwingungen nicht abbilden, vielleicht können es einige indianische Stämme mit lautmalerischen Worten.

Gerade jetzt erschien der Mond in dem kleinen Himmelsausschnitt an der Pyramidenspitze und sandte seine Strahlen den Schacht hinab. Als Andrew vorsichtig nach unten blickte, sah er wie sich das Licht des Mondes auf einer unzähligen Masse von blassen Punkten reflektierte, die in Bewegung war, sich in sich chaotischer Weise verschob, pulsierte und verwirbelte. Doch mit eisigem Schrecken erkannte Andrew, dass die Punkte ihren Durchmesser im gleichen Tempo wie das anschwellende Geräusch vergrößerten.

Waren sie zunächst nur ein kaum erkennbarer Flecken in der Finsternis des Schachtes gewesen, so wurden sie rasch zu einem Gewimmel, das bis an die Wände reichte und das Dunkel vollständig verdrängte. Da verstand Warton, dass diese Masse im Begriff war nach oben zu steigen – und das tat sie rasend schnell!

Gerade als der Luftzug unerträglich wurde, explodierte das Geräusch im Schacht und ein Strahl aus Schwärze und Weiße schoss stroboskopartig an Andrew vorbei, der von einer unsichtbaren Hand nach hinten gerissen wurde und hart auf den Steinboden aufschlug. Der Luftzug und der ohrenbetäubende Krach von unzähligen Schwingen fauchte über ihn hinweg und er fühlte einen stechenden Schmerz im Rücken, als er einige Rippenbögen brechen hörte, die sich ihm in die Lunge bohrten. Warton würgte und hustete blutigen Speichel aus. Das Atem fiel ihm schwer und ein röchelndes Geräusch war bei jedem Luftholen hörbar, als sich Körperflüssigkeit in der inneren Wunde sammelte.

Die Hand, welche ihn vom Schacht weggerissen und ihm damit möglicherweise das Leben gerettet hatte, hielt ihn noch immer gepackt. Sie zerrte Andrew aus der Gefahrenzone.

„Sie hätten nicht herkommen dürfen, Warton!“

Andrew erkannte Pakals Stimme – dann verlor er das Bewusstsein.

 

„Sie hätten nicht herkommen dürfen, Warton!“

Schmerz – ein unglaublich intensiver Schmerz beim Atmen war das Erste, was er fühlte. Andrew schlug die Augen auf und kniff sie sofort wieder zusammen, da ihn eine Lichtquelle blendete. Beim nächsten Versuch bemerkte er, dass ein Lagerfeuer hell loderte und die Gesichter der umstehenden Männer in tanzende Flecken verwandelte. Sie redeten in einer ihm unbekannten Mayasprache miteinander. Warton wusste nicht, ob er das eben Gehörte geträumt hatte, doch dann beugte sich Pakal über den Verletzten.

„Still – bewegen Sie sich nicht! Man hat sie behandelt, aber noch sind Sie nicht vollständig wieder hergestellt.“

„Wo bin...?“ Wartons Lippen waren zu trocken und er war zu schwach um weiterzureden.

„Psst“, ermahnte ihn Pakal. „Sie sind immer noch inmitten der Ruinen der geheimen Tempelstadt. Es wird bald dämmern – und das Fest des Windes wird beginnen!“

„Ich verstehe nicht...?“

Da lächelte Pakal grausam.

„Sie werden noch verstehen, wenn der Morgen kommt!“

„Aber...“

„Doch zunächst müssen Sie nur wissen, dass ich Ihnen gefolgt bin und Sie gerettet habe. Still – der Schamane kommt!“

Eine Gestalt kam auf die beiden Männer zugewankt. Zunächst hielt Warton den Mann für ein Phantom, denn sein Kopf erschien außergewöhnlich groß, wie er so vor dem Feuer wankte. Doch dann sah Andrew, dass es sich dabei um einen alten, gebeugt gehenden Mann handelte, der einen Kranz aus Papagaienfedern auf dem Kopf trug, welcher noch mittels eines Eisenringes an seinen Hüften befestigt war, damit er nicht zu schwer auf den Schultern lastete.

Im kalten Luftzug der Nacht flatterte ein selbstgewebter Mantel aus rotweißem Stoff, der in Fransen auslief. In der einen Hand hielt der Alte einen Stab, von dem Schrumpfköpfe in den verschiedensten Stadien der Verwesung baumelten. Sie erzeugten beim Aufeinanderprallen ein dumpfes Klappern. Die Finger der anderen Hand umschlossen ein bauchiges Gefäß, das der Mann häufig an seine zitternden Lippen führte, um daraus zu trinken. Mit jedem Schluck hellte sich sein Blick ein wenig mehr auf und die Falten in seinem Gesicht wurden tiefer und warfen größere Schatten – er lächelte. Es war der Schamane aus der Hütte des Dorfes.

Warton versuchte trotz seiner Schmerzen aufzustehen – doch man hatte ihn gefesselt.

„Pakal – was soll das?“

Pakal war aufgestanden und gesellte sich zu dem Schamanen. Beide waren nur mehr riesige Schatten vor den Flammen des Feuers.

„Nun – es gibt da etwas, was ich Ihnen sagen muss. Doch zunächst darf ich nicht weiter reden – die heilige Geisteraustreibung des Schamanen darf nicht gestört werden!“

Warton suchte fieberhaft nach einer Erklärung für das seltsame Verhalten seines Vertrauten. Doch er fand keine, die ihm nur einigermaßen einleuchtete. Alle Erinnerungsfetzen verschwammen vor seinem inneren Auge zu einer formlosen Masse aus Feuer und Schatten.

Dann nahm der Schamane einen kräftigen Schluck aus der Flasche – und spie Warton mit gespitzten Lippen an. In einen feuchten Nebel gehüllt, fühlte dieser zunächst nur den Schreck, dann kam der Ekel und Andrew würgte. Es war eine würzig-scharfe Flüssigkeit – Schnaps.

Der Schamane wedelte mit dem Schädelstab und sprach einige Beschwörungsformeln, dann spie er noch zweimal auf den Gefesselten, ehe er von ihm abließ.

Noch während Warton keuchte, kniete sich Pakal nieder und nahm dessen Kopf in die Hände.

„Es ist Zeit, Ihnen die Wahrheit über das Fest zu sagen.“

Andrew hörte nur mehr mit einem Ohr hin, er drohte wieder ohnmächtig zu werden. Pakal erkannte dies und ohrfeigte ihn mehrmals.

„Das tut mir leid, aber ich bin auch nur ein Opfer der Umstände, wie Sie – glauben Sie mir!“

Warton versuchte ihm ins Gesicht zu spucken, aber ihm fehlte es an Speichel, so dass aus dem Versuch ein klägliches Verzerren der Gesichtsmuskel ohne Effekt wurde.

„Bemühen Sie sich nicht – ich will nun wieder offen zu Ihnen sein, wie ich es auch vor meiner Abreise war, vergessen Sie das nicht. Als ich in El Alto ankam war es sehr verändert, wie ich schon berichtet habe. Aber ich fügte mich schnell in das neue Dorfleben ein, nachdem ich erfahren hatte, dass mein ältester Sohn als Opfer für den Gott des Windes ausersehen war!“

Pakals Augen füllten sich mit Tränen.

„Können Sie sich meine Angst und Trauer vorstellen? Mein Ältester – Hzamna geopfert? Ich wollte es nicht glauben – doch da hatte ich die Vision. In der Nacht erschien mir ein großer Vogel und sprach zu mir. Seine Worte waren seltsam, aber ich glaubte – oh und wie gern ich glaubte. Er sagte, dass ich meinen Sohn wieder zurückbekäme, sollte ich ein anderes Opfer vorschlagen können. Schon am nächsten Morgen ging ich zum Schamanen und schilderte ihm den Traum. Welche Freude war es für mich, als er sagte, dass der Traum eine Botschaft von Hzamna war! Doch wen aus dem Dorf sollte ich als Ersatz auswählen?“

Warton verstand nur ansatzweise wovon gesprochen wurde. Seine Schmerzen hatten wieder zugenommen. Rote Schlieren wanderten durch sein Gesichtsfeld.

„Ich brachte es nicht über mich, dem Schamanen den Namen eines meiner Verwandten zu nennen – oder gar den eines Nachbarn oder Freundes. Natürlich wollte ich auch auf gar keinen Fall eines der Kinder in Gefahr bringen – also wen?“

Wartons Gehirn begann zu arbeiten.

„Also dachtest du an mich!“, sagte er.

Pakals Gesicht hellte sich auf.

„Genau! Eigentlich habe ich nichts gegen Sie, Warton. Aber Sie waren der Erstbeste, der mir einfiel – dessen Verschwinden mich nicht weiter stören würde. Es tut mir leid!“

Andrew wurde schlecht. Seine Muskeln versagten den Dienst und er erschlaffte. Als sein Kopf auf dem Boden aufschlug, dämmerte es bereits. Doch für ihn wurde es schlagartig Nacht.

 

Die Dunkelheit wich einem Schrei, ausgestoßen von hunderten von Kehlen.

Andrew riss die Augen auf und Lichtstrahlen der Sonne brannten ihre Nachbilder auf seine gepeinigte Netzhaut. Schmerzhaft zogen sich seine Pupillen zusammen, dann erkannte er, dass die Männer ihn nicht fortgetragen hatten. Er lag auf der Plaza der Tempelstadt.

Um ihn herum erkannte er zunächst nur nackte Füße und Beine. Dann packten ihn unzählige grobe Hände und richteten ihn auf.

„Ich stehe...aber wie ist das möglich?“

Warton fühlte keinen Boden unter den Füßen, aber einen starken Druck im Rücken. Er sah an sich hinunter und bemerkte, dass er x-förmig auf ein hölzernes Gestell gefesselt war. Zwei Männer hielten es, während ein dritter ihm die Kleider herunterriss. Sofort fühlte Warton die wärmenden Strahlen der Sonne auf der Haut und wand sich ungemütlich. Einige Minuten noch und er würde DEN Sonnenbrand seines Lebens haben.

Pakal hatte seine Festtracht angelegt und hielt nun Wartons Kleider in der Hand. Er reicht sie dem Schamanen, der daneben stand und das Bündel auf den Boden legte. Hinter den beiden waren die Dorfbewohner in Festtracht aufmarschiert und tanzten übermütig zu den Klängen einer Musikgruppe. Diese spielten auf ihren Flöten, Trompeten und einige Männer trugen Trommeln auf dem Rücken, während hinter ihnen Gehende darauf einschlugen. Alle Männer trugen fleckige Indio-Cowboyhüte, deren Ränder schon zerfaserten.

In der Ferne erkannte er, halb unter Buschwerk und Bäumen verborgen, die Nischenpyramide mit den unzähligen schwarzen Löchern, die wie Fenster wirkten. Warton befand sich am entgegengesetzten Ende der Plaza, direkt neben dem antiken Ballspielplatz. Als er neben sich sah, erkannte er mit Schrecken, dass er nicht das einzige Opfer war: Vier Männer zu seiner Rechten und fünf zu seiner Linken warteten darauf, dass die Zeremonie begann. Einer davon, ein älterer Herr mit dickem Bauch, war allem Anschein nach kein Indio – Andrew vermutete, dass dies der ehemalige Pfarrer von El Alto war. Die meisten der Opfer hatten einen Blick, welcher der Welt entrückt schien. Warton vermutete, dass sie mit Drogen aufgefüllt worden waren – oder mit Schnaps, den der Schamane ständig bei sich trug.

Dieser stimmte einen merkwürdigen Singsang an und das ganze Dorf fiel mit ein. Nun bahnten sich Frauen einen Weg durch die Menge. Jede hielt eine Schale mit Mehl in den Händen. Darauf lag eine lange Nadel. Warton wurde schlecht, als er sich vorstellte, was man alles damit anstellen konnte.

Die zehn Frauen stoppten vor den Opfern. Die Alte vor Andrew griff nach seinem schlaffen Geschlechtsteil und packte es hart. Den anderen Männern auf den Gestellen neben Warton musste es ähnlich gehen, denn er hörte sie aufschreien. Ein paar Sekundenbruchteile später wusste er auch, warum sie so unmenschlich brüllten, nämlich in dem Moment, als die Alte mit der Nadel seinen Penis durchbohrte.

Warton schrie wie ein gepeinigtes Tier auf. Der Schmerz war unerträglich und die Ohnmacht senkte sich wie ein gnädiger Schleier auf ihn herab. Seine letzten Gedanken waren:

„Oh Gott – das ist wie im Schöpfungsmythos der Maya! Der Mensch wurde geformt, indem ein Gott seinen Penis durchbohrte und das Blut mit Mehl vermischte.“

 

Als er wieder zu sich kam sah er nur das Gras und den staubigen Boden der Plaza.

Die Sonne hatte schon lange ihren höchsten Punkt überschritten und senkte sich wieder dem Horizont entgegen. Hoffnung keimte in Warton auf. Sollte dies das Ende der Feierlichkeiten bedeuten?

Doch ein Ruck ging durch seinen Körper und vernichtete alle Hoffnungen. Er wurde hochgehievt und schwebte nunmehr mehrere Meter über dem Boden. Sein Gesicht war in eine hölzerne Querstrebe geklemmt, so dass er nur ein wenig nach links und rechts sehen konnte, indem er die Augen verdrehte. Aber was er sah, ließ ihn erschauern.

Er befand sich mit den anderen Gefangenen auf zwei halbmondförmigen riesigen Holzgerüsten, die nebeneinander standen und gute zehn Meter in die Höhe ragten. Diese wurde von zwei Gruppen der Männer des Dorfes emporgezogen. Sie stemmten sich in den Boden und zerrten an zwei Seilen, die nach Art des Flaschenzugprinzips durch zwei Ringe führten. Diese befanden sich an einem mächtigen entzweigten Baumstamm in der Mitte der Holzgerüste. Er trug eine Art Vogelkopf mit schwarzem Gefieder und roten Augen als Krone. Zur Befestigung wurden die Seile am Boden festgezurrt, dann verließen die Männer die Plaza.

Andrew war allein mit dem Heulen des Windes, der rote Bänder wild wehen ließ, welche an die Gerüste gebunden worden waren. Der Wind kühlte seinen geschundenen Körper und trug ihm das Stöhnen der anderen Opfer an die Ohren, welche links, unten und über Andrew festgebunden waren. Das Ganze bot einen grotesken Anblick: die Männer hingen mit verdrehten Gliedern hinter dem Gerüst. Ihre Gesichter waren in die Vierecke gepresst, welche durch die gitterartige Verstrebungstechnik der Gerüste entstanden.

Andrew fragte sich gerade, warum man sie nicht vorne auf die Gerüste geschnallt hatte, als sein Blick auf die gegenüberliegende Nischenpyramide fiel. Hatte er nicht dort eine Bewegung gesehen? Auf einmal war ihm, als säßen auf den steinernen Stufen gedrungene Gestalten, die leicht im Wind schaukelten.

Da erhob sich etwas wie eine Wolke aus Schwarz von der Pyramide, versammelte sich in der noch heißen Luft und trieb auf die Gerüste zu.

Andrew wurde heiß und kalt. Er erkannte mit einem Mal, dass die Folter nur das Vorspiel zum Fest gewesen war – irgendetwas hatte nur darauf gewartet, dass die Dorfbewohner die Plaza verlassen hatten, um dann ungestört zuschlagen zu können.

Andrew hörte es noch bevor er sie sah – das Schlagen von ungezählten Flügeln.

Es waren Geier, deren hässliche Gesichter sich gegen die gefesselten Gestalten auf den Gerüsten reckten, welche in Panik versuchten, die Köpfe zurückzureißen – doch vergeblich. Und nun erkannte Andrew auch den Sinn der Art Fesselung: so boten die Holzstangen den Vögeln eine gute Gelegenheit, um sich niederzulassen!

Die Welt versank in einem Meer aus Schwärze und Gefieder. Ein schwarzer Geier hatte seine schuppigen Krallen um die Holzstange vor Wartons Gesicht geschlagen und beugte seinen Schnabel in Sichtweite. Doch er wurde von einem anderen angegriffen und verdrängt. Auch dieser Vogel musste bald einem dritten weichen. Aber dieser konnte sich erfolgreich gegen alle Versuche durchsetzen, seinen Platz aufzugeben. So hockte er und starrte um sich – mit weit ausgebreiteten Schwingen als Drohgebärde.

Dann ebbte die Kakophonie aus Vogelschreien und Gefiedergeflatter ab und diejenigen Vögel verließen den Platz, welche sich keine Stange in der Nähe der Opfer hatten ergattern können. Es wurde Nacht.

Nichts geschah. Der Geier hockte nur da und sah Andrew aufmerksam ins Gesicht, so als könne er dessen Angst lesen und sie stumm genießen. Der Gefesselte sah an dem Tier vorbei nach unten und sah mit Erstaunen eine Reihe lautloser Gestalten am Boden vor den Gerüsten stehen – fünf hier und fünf da. Hatte man Wächter zurückgelassen?

Erst der volle Mond brachte die schaurige Erkenntnis. Was da am Boden in Lebensgröße stand, war nichts anderes als die nahezu perfekte Abbildung eines Menschen; und das in fünffacher Ausführung! Ein leichte Röte überzog die mehlig weißen Gliedmaßen, aber trotzdem erschienen sie nicht außergewöhnlich unnatürlich – Warton überlegte, wie er selbst wohl gerade aussah? Hier oben, aufgehängt an einem der beiden schwingenartigen Gerüste als Opfer für die Geier...

Über die Bedeutung der Mehlfiguren grübelnd fiel er nach Stunden in einen tiefen Schlaf, der vom hohen Erschöpfungsgrad des Mannes zeugte.

 

Er erwachte mit dem nachklingenden Geräusch von Flügelschlägen. Der Geier hatte seinen Platz verlassen und schwebte nun vor Warton in der Luft. Sein Kopf war nach unten gereckt und riss an etwas herum, was Andrew nicht sehen konnte. Mit den Flügeln unterstützte der Geier diese Bewegung.

Da durchfuhr den Gefesselten ein furchtbarer Schmerz und ein Blick nach unten machte die Vermutung zur Gewissheit: das Tier hatte ihm die Bauchdecke aufgerissen und zerrte an den Eingeweiden!

Warton schrie gellend auf und die anderen Gefangenen stimmten ein in den Chor der Agonie. Der Vogel ließ von seiner Beute ab und flog schimpfend davon, gefolgt von den anderen Geiern, die sich nun ebenfalls zurückzogen.

Andrew konnte es nicht fassen – der Geier hatte an ihm gefressen! Er war ein Köder für die Vögel geworden. Nichts anderes stellte er nunmehr dar. Das war also das Fest des Windes: ein Blutopfer für den Windgott, symbolisiert durch die Geier, welche die Gefesselten bei lebendigem Leibe auffraßen.

Andrew hoffte auf den Morgen und durchwachte die Nacht. Wimmerndes Stöhnen neben und unter ihm hielt ihn aufrecht. Und wenn der Schmerz zu stark wurde und ihn zu übermannen drohte, dann biss Warton in die Querstrebe direkt vor seinem Mund, bis das Zahnfleisch zu bluten begann.

 

Am nächsten Tag kamen die Dorfbewohner wieder und priesen mit lauten Lobgesängen die Opfer an den Gerüsten. Viele zeigten mit den Fingern nach oben und wiesen ihren Nachbarn auf die unterschiedlichen Grade der Verletzungen hin.

In einem der seltenen Momente, als Warton den Schmerz einigermaßen unter Kontrolle hatte, besah er die anderen Gefangenen. Alle besaßen ein großes fransiges Loch in der Bauchdecke, das schleimige Blutfäden auf die darunterliegenden Holzstreben und Männer tropfte. Andrew fand, dass das Eigenartigste daran war, dass ausnahmslos alle Männer diese Wunde besaßen. Einige waren noch an den Schienbeinen oder den Armen angefressen worden, doch erschien es Andrew so, als wäre das nur die Nebenarbeit der Vögel gewesen. „Ein kleiner Snack zwischendurch!“, musste er zynisch denken. „Warum nicht die Augen? Warum immer dieses Loch im Bauch?“, dachte er.

Da sah er Pakal stehen.

„Jemand wird kommen!“, rief der Wissenschaftler mit schwacher Stimme seinem ehemaligen Assistenten zu.

Dieser klopfte einem der Statuen auf die Schulter und sagte:

„Ich glaube nicht! Ich denke – es wird einer gehen...“

Das verwirrte den Wissenschaftler und er furchte die Stirn. Ergebnislos.

„Sehen Sie, Andrew. Man wird Sie nicht vermisse, denn Sie werden den Dschungel wieder verlassen und sich ganz Ihrer Aufgabe widmen. Wenn das Fest vorbei ist, natürlich.“

„Ich verstehe nicht...“

Pakal senkte den Blick.

„Das müssen Sie auch nicht. Tut mir leid, Andrew! Auf Wiedersehen – ich komme nicht wieder, denn ich kann Ihren Anblick nicht ertragen. Verzeihen Sie mir, dass ich Sie in dieses Unglück gebracht habe, aber mein Sohn...“

„Grab...räuber...?“ ächzte der Wissenschaftler.

„Sie wollen wissen, was mit ihnen geschehen ist? Nun, es gab nie Grabräuber in El Alto und auch nicht im Nachbardorf. Die Männer, welche Sie führten, waren Dorfbewohner. Das alles hatte nur zum Ziel, Sie in die Ruinenstadt zu locken!“

Warton versuchte zu brüllen, dass Pakal endlich das Maul halten solle, doch er brachte keinen Ton mehr heraus. Pakal wandte sich um und ging durch die johlende Menge, die einem Feuerspucker bei der Arbeit zusah und sich vergnügte. Dann sank die Sonne ein zweites Mal hinter die Bäume des Dschungels und die Nacht brach herein.

 

Diesmal war Andrew gewarnt. Er hatte in den letzten Stunden vor Sonnenuntergang etwas Schlaf ergattern können und fühlte sich nun in Anbetracht seines körperlichen Zustands fit für die Nachtwache.

Warton fühlte den aufkommenden Wind durch die aufgerissene Bauchdecke in sein Inneres dringen. Es ungekanntes und erschreckendes Gefühl erfasste ihn, wenn die Kälte um die schlauchartigen Därme wehte und die darum gewundenen Nerven erreichte, welche die Muskeln anspannten und damit das Innereiengewirr zusammenzogen.

Stunden vergingen und kein Vogel erschien.

Der Mond ging auf und eine große Anzahl von Nachttieren heulte, gackerte, bellte, fauchte und trillerte auf, ihn zu lobpreisen. Das Gezeter des Dschungels währte nervenzerfetzende Stunden – doch urplötzlich endete es und absolute Stille schwebte über den Baumkronen.

Andrew hielt unwillkürlich den Atem an. Das war neu. Das war selbst beim Angriff der Geier nicht passiert. Irgendetwas Fürchterliches, Grausames, Großes bahnte sich an.

Und da war er wieder – der Ton, den Andrew in der Nischenpyramide gehört hatte. Er schwoll an und schien direkt aus der Erde zu kommen. Warton fühlte ein Zittern durch das Gerüst laufen und dachte im ersten Moment an ein Erdbeben, doch dann sah er es:

aus der flachen Spitze der Nischenpyramide schoß ein Strahl senkrecht in den Himmel, der aus schwarzweißen Lichtreflexen bestand. Er sammelte sich in einer Wolkenformation, die an einen Atompilz denken ließ. Die Wolke bestand aus unzähligen Partikeln – Einzelwesen, die wild durcheinander und umeinanderflogen, sich gegenseitig in hungriger Gier beißend, wie Andrew anhand der Flugbewegungen auszumachen glaubte.

„Das sind nicht die Geier – oh nein!“, dachte Andrew und er sollte Recht behalten. Von den Mitgefangenen hörte er nur ein gestammeltes und refrainartig wiederholtes: „Kumk’u“.

Nachdem der Strahl geendet hatte, formierten sich die Wesen und flogen direkt auf die Gerüste zu. Als sie näher kamen, erkannte Andrew in ihnen das Phänomen wieder, was er im Dunkel des Pyramidenschachtes gesehen hatte. Ja, es waren die gleichen Wesen – er sah es anhand ihrer chaotisch wimmelnden Flugbewegungen.

„Es sieht fast so aus, als würden sie wie Delphine durch die Luft schwimmen, von wellenartigen Bewegungen ihrer Körper vorangetrieben“, meinte der Wissenschaftler zu sich selbst. Aber sie hatten auch Flügel – riesige Schwingen aus glänzendem Schwarz. Nahtlos schwarz, ohne Federn. Sie erschienen dem Gefesselten wie gigantische Fledermausflügel.

Doch als er ihre Köpfe sah, da schrie er auf und kämpfte mit aller ihm verbliebenen Kraft gegen die Fesselung und die Stäbe – denn es waren die kahlen Schädel von Skeletten.

Der Schwarm ließ sich auf die Gerüste nieder und verwandelte sie in einen großen schwarzen Vogel. Die Totenkopfwesen schienen sich in der Futterrangliste abwechseln zu wollen, denn es entstand kein Gerangel, obwohl ihre Zahl die der Geier bei weitem übertraf.

Angeekelt wollte Andrew den Kopf von ihrem Anblick und ihren gurrenden Lauten abwenden, doch es gelang ihm nicht.

Da erhob sich ein Wesen und schwang sich vor ihm in die Luft. Es schwebte nur knapp einen Meter von Warton entfernt und ließ sein unteres, phallusartiges Körperende sehen, aus dem sich nun zwei Tentakel herausschlängelten: das eine bestehend aus einem ganzen Bündel an Einzelfängen – hauchdünn und nahezu kaum einzeln zu erkennen, das andere als zwei Finger dicker Strang, an dessen faulig riechendem Ende ein schwarzes Loch gähnte, das mit dreieckigen Fangzähnen gespickt war.

Andrew war starr. Was wollten die Wesen von den Menschen? Lebten Sie schon immer unter den Pyramiden, oder waren sie erst später von den Sternen gekommen? Waren die Opfer Teil eines grotesken Paktes zwischen Indios und Wesen einer anderen Dimension?

Das Tentakelbündel berührte Wartons Haut und tastete sich vorwärts, so als könne es als eigenständiger Körperteil nichts sehen und verließe sich nur auf den Tastsinn. Viele hundert Tentakel schoben sich über die Poren von Andrew und suchten Einlass. Sie fanden ihn in Form des mit schwarz verkrustetem Blut gesäumten Loches in der Bauchdecke. Sie griffen hinein und plötzlich war Andrew, als lege sich ein samtener Schleier zwischen sich und der Umgebung. Seine Schmerzen wurden dumpf und unwirklich, schließlich stoppten sie ganz. Der Schädel vor ihm grinste unaufhörlich sein Totengrinsen, doch das kam Warton nicht mehr höhnisch vor. Selbst der Anblick der augenlosen Höhlen, in welche der Schatten des Gerüsts fiel, war für ihn auf einmal erträglich. Und er nahm kaum noch wahr, dass das andere, verwest stinkende Ende des Körperfortsatzes nach vorne zuckte und nun seine Schädeldecke durchbrach.

Während es mit saugenden Geräuschen an Andrews Gehirn fraß, träumte dieser von elektrischen Schafen...

 

Von nun an wurde es von Nacht zu Nacht besser.

Die Wesen gingen immer im Morgengrauen und kamen stets kurz nach der Dämmerung. Mit jedem Besuch fraßen sie ein Stück mehr aus Andrews Gehirn, während sie ihn mittels der feinen Tentakel in seinem Bauch, die sich an seinen Innereien angesetzt hatten, mit Nährstoffen versorgten und ihn damit am Leben hielten.

Andrews Erinnerungsvermögen wurde mit jedem gefressenen Teilstück seines Hirns weniger. Dann fielen die motorischen Kontrollen aus und er entleerte seine Blase und seinen Darm auf das Gerüst. Als nächstes waren die Reflexe an der Reihe, dann kamen die tiefer sitzenden Bereiche des Stammhirns dran. Andrew wurde zu einer Hülle, während die Puppe unter ihm von Tag zu Tag mehr wie ein lebender Mensch aussah.

Irgendwann in der Nacht zum siebten Tag hatte sie eine frappierende Ähnlichkeit mit dem, was einst dort oben am Gerüst gehangen war und sie griff sich die Kleider von Warton, zog sie an und verließ die Plaza um ihren Platz in der Gesellschaft einzunehmen. Nach und nach gingen alle anderen Puppen den gleichen Weg.

Nur die Hülle Andrew blieb zurück.

Jede Nacht würde er geistig leerer werden, bis eines Nachts die unwillkürlichen Muskelbewegungen auch aussetzen würden, da die Hirnareale gefressen worden wären.

Dann würde die Hülle Andrew zu atmen vergessen, sein Herz würde aufhören zu schlagen und er wäre endgültig erlöst.

Doch das kann noch dauern, denn die Wesen sind genügsam, wenn sie sich erst einmal satt gefressen haben. Und das Fest dauerte eine Woche, so sagten die Indios.

Und eine Woche ist nach der Zählung des Maya Kalenders nicht sieben...

...sondern zwanzig Tage lang!

 

Doch wieso sollte das Andrew noch stören....?

 

 

© Markus K. Korb

Begonnen:           26.2.2001            22-23.30 Uhr

2.3.2001               22-1 Uhr

7.3.2001               21-1.20 Uhr