Die gewaltigen Kiefer schnappten über mir zu wie die Portale eines Schleusentors. Ein plötzlicher, reißender Schmerz schoss durch meine Hüfte, als ob ich in einen Schraubstock geraten wäre, der meinen Körper in der Taille in zwei Teile zu zerreißen drohte. Mit einem Mal war es dunkel, das riesige Gebiss hatte sich über mir geschlossen. Ich spürte, mit furchtbarer Intensität, wie mein Körper hin und her geschleudert und schließlich zerrissen wurde, ein hilfloser Spielball gewaltiger Kräfte. Am grauenvollsten waren die widerwärtigen knackenden Geräusche beim Zermalmen der Knochen, der ekelhafte Schleim, der sich um den Körper legte, die absolute Machtlosigkeit, das Ausgeliefertsein, vor allem die Unwürdigkeit dieser Lage. Und die Dunkelheit, das traumlose Nichts, das mich einhüllte, das mich vernichtete.
Gerade als der Schmerz unerträglich zu werden drohte, wurde mir der Virtu-Helm vom Kopf gerissen. Eine wacklige Reihe schwärzlicher fauliger Zähne lachte schief und krumm in meine schreckgeweiteten Augen hinein.
„Na, wie war’s?“
Die Stimme von Rudi riss mich aus meiner Betäubung. Es wurde dunkel. Meine Finger, Arme und Beine fühlten sich taub an. Kein Wunder, denn „eigentlich“ waren sie ja schon längst von meinem Körper abgetrennt worden und in dem Bauch des T. Rex gelandet, der ihn „gefressen“ hatte. Das war tatsächlich ich gewesen, der da von diesem widerlichen Monstrum gepackt, zerrissen und gefressen worden ist! Es war fürchterlich!
„Kommt doch echt gut, nicht?“
Rudi und seine dummen Sprüche. Aber ich musste widerwillig zugeben, dass ich in meinem ganzen bisherigen Leben noch nichts Vergleichbares erfahren hatte. Auch wenn das Ganze nur ein Spiel ist … Mich schauderte. Das Grauen, das ich erlebt hatte, war echt gewesen. Etwas zu realistisch für meinen Geschmack. Aber genau das war es ja, was ich gesucht hatte: geile, abartige, tierisch widerliche Grausamkeit, äußerste Gefühlsintensität; etwas vollkommen Widerliches und Grauenerregendes in absoluter Authentizität erleben zu können – und das, ohne jemals wirklich selbst gefährdet zu sein.
„Du wirst gefressen – und du musst kotzen dabei!“ hatte Rudi nicht zu viel versprochen. Ein seltsames Versprechen, das seinen unwiderstehlichen Reiz gerade aus seiner Abseitigkeit bezog. Rudi hätte auch locker in einer Werbeagentur Karriere machen können, wenn ihn denn eine eingestellt hätte. Aber das konnte ich mir beim besten Willen nicht vorstellen. Als sein eigener Promoter war Rudi unschlagbar, aber als Hampelmann auf fremde Rechnung …
„Das Beste war die Jagd gewesen“, dachte ich. Ich hätte mir im Traum nicht vorstellen können, dass dies alles so realistisch wirkte. Meine Ellbogen und Beine zucken jetzt noch unwillkürlich in einem instinktiven Fluchtreflex, wenn ich nur daran denke, wie ich vorhin durch die urzeitliche Flora der mittleren Kreidezeit gekrochen bin … Ich schleiche, von Furcht und Neugier getrieben durch das fremdartige Unterholz, vorsichtig, aufs Äußerste angespannt. Und dann, wie aus dem Nichts, urplötzlich das dumpfe Grollen des T. Rex, der mich in einer Lichtung der Farnbäume erspäht hatte. Bodenloser Leichtsinn, aber ich wollte es ja anscheinend nicht anders. Da nahm Freund T. Rex auch schon die Verfolgung auf. Er hatte seine Beute gewittert. Ich spürte, dass es ernst wurde. Mir wurde schwarz vor Augen, ich rannte blindlings in den Wald hinein.
Mein zweiter Fehler. Denn darauf hatte das Weibchen, die „Freundin“ von Master T. Rex nur gewartet. Um meine panischen Bewegungen zu bremsen, versuchte ich mit dem rechten Arm an dem Stamm eines Baumfarns kurz Halt zu finden, da stieß hoch über mir aus den Wipfeln auch schon das Maul von Madame Rex zu. Aus den Augenwinkeln erkannte ich gerade noch rechtzeitig den dunklen Schatten, nutzte meinen Schwung aus und warf mich in einer Rolle rückwärts links ins Gebüsch. Madame Rex‘ Schnauze stieß unsanft ins Leere, der ekelhafte, modrige Geruch, den sie verströmte, verschlug mir den Atem. Ich rollte mich tiefer ins Unterholz. Madame schnaubte. Für einen Moment hatte ich schon geglaubt, dass ich mich nun außer Reichweite ihrer Kiefer gebracht hätte. „Bloß nicht bewegen!“, dachte ich noch, wie ich es in „Jurassic Park“ gelernt hatte. Mit einem ohrenbetäubenden Krachen brach der gewaltige Kopf durch die Zweige …
„Das Ganze ist doch sowieso eine Schnapsidee!“ dachte ich. Sich einen Datenhelm aufsetzen, um sich virtuell von einem Tyrannosaurus Rex auffressen zu lassen! „Pervers“ ist ja schon gar kein Ausdruck mehr für so etwas! Kann man sich überhaupt noch etwas Abseitigeres vorstellen, als sich von einem Urzeitungeheuer fressen zu lassen und das auch noch zu genießen? Na ja, jeder weiß, es gibt schon noch so einiges, was ich mir vorstellen konnte, so einiges, was gewisse Menschen bestimmt auch erleben wollten. Und das sooft, sie wollten und ohne auch nur die geringste Angst dabei haben zu müssen, dass man sie für ihre perversen Spielchen irgendwann bestrafen würde. Mich schauderte es schon wieder. Es ist grauenhaft, das ist wahr! So etwas gibt es normalerweise nur in Zeiten des Krieges und der Barbarei.
„Also, mein Angebot:“, schnarrte Rudis Stimme in meine Überlegungen hinein, „Ich leihe dir das Equipment samt Virtu-Helm, Datentaster, Rechner und Software für 79.90 Euro pro Wochenende, mit der Option selbstverständlich, bei jeder Neuentwicklung gleich ganz vorne in der Liste zu stehen. Oder aber du kaufst gleich das ganze Set. 3500,--, weil du’s bist. Und für zwei Jahre alle Neuentwicklungen kostenlos. Na, was sagst du?“
Tolles Angebot. Aber ich kenne Rudi. 2000,-- wären für diese Offerte mehr als genug. Ich tat so, als müsste ich noch überlegen.
„Also, ich weiß nicht so recht. An was für Neuentwicklungen hast du denn so gedacht? Ich fürchte, wenn man sich erst ein paar Mal von diesem Vieh hat fressen lassen, dann ist doch der ganze Kick gleich wieder weg …“
„Das las mal getrost meine Sorge sein. Was hältst du von folgendem Szenario: Dschungel, drückende Hitze, jede Menge Urviecher, wie gehabt. Dann aber: Zuerst eine hübsche kleine Verfolgungsjagd durch den Busch. Freund T. Rex jagt hinter einer supergeilen blonden Tussi her, mit nichts als einem dünnen Leopardentanga – an der Lady natürlich, nicht am T. Rex. Und dann: ,Happs!‘ Scharfes Gebiss auf scharfer Mieze – scharf, was?“
Eines musste man Rudi lassen: Einem das Maul wässrig zu machen, davon versteht er was.
„Man kann das Programm natürlich auch variieren. Dergestalt, dass du die Kleine erst ordentlich vögelst, bevor der Dino kommt …“
Ich gebe es nicht gerne zu, aber diese Vorstellung hat was. Eigentlich hätte ich auf der Stelle gehen sollen. Diese vollkommene Hemmungslosigkeit und dazu der biedere Geschäftssinn, den Rudi da an den Tag legte, widerten mich an. Eigentlich. Wäre da nicht dieses scharfe, hungrige Gefühl im Bauch, das genau nach dem verlangte, was Rudi eben völlig unmissverständlich angeboten hatte.
„Stell dir nur mal die Supertitten von der Alten vor: Voll 3D-gefühlsecht; Form, Farbe und die Konsistenz werden frei wählbar sein, ebenso wie der Feuchtigkeitsgrad ihrer Möse … Als Model habe ich da an Erika gedacht, weißt du …“
„Ein frei wählbarer Feuchtigkeitsgrad der …!?“
„Aber natürlich. Ist doch überhaupt kein Problem. Alle Programmparameter sind selbstverständlich stufenlos und vollkommen unabhängig von den anderen Menüoptionen einstellbar. Vielleicht hast du heute ja Lust auf eine besonders heiße, saftige, … na, du weißt schon … Morgen aber ist es dir dann doch vielleicht nach etwas Spröderem; eine schüchterne Jungfrau vielleicht, die man erst ordentlich auf Touren bringen muss, verstehst du?“
Man merkt schon, dass Rudi nichts von Frauen versteht – dafür aber umso mehr von den Wünschen der Männer.
Rudi bemerkte meine Unschlüssigkeit, aber er ließ nicht locker. Ein verstohlenes Leuchten glimmte in seinen Augen auf, als er meinte, endlich das ultimative Verkaufsargument für mich gefunden zu haben:
„Ich könnte natürlich auch Diana als Opfer einprogrammieren, weißt du …“
* * *
Das war’s! Ich fixierte das Aus-Feld im äußersten linken Bildrand. Rudis grinsendes Gesicht zerfloss ins Nichts und ein neutraler Blauton füllte mein Blickfeld. Ich öffnete die Augen und nahm den Virtu-Helm vom Kopf. Der vertraute Anblick meines Zimmers schlug wie eine gewaltige, alles zermalmende Woge über mich herein, aber ich war erleichtert, wieder zurück zu sein.
„So weit kommt’s noch!“ dachte ich. Wenn Rudi glaubt, in alten Geschichten herumwühlen zu müssen, um seine Programme zu verkaufen, dann hat er sich aber geschnitten. Wütend zog ich den V-Stick aus der Konsole und warf ihn auf den Tisch.
Nee mein Lieber! So nicht! Seine Programme sind ja ganz gut, aber seine Verkaufsstrategie …
Ausgerechnet Diana! Diese dumme, alte Affäre, die mich so viel gekostet hat – Nerven vor allem, Herzblut und Geld natürlich auch. Wie kommt er nur auf diese Idee? Das ist doch schon mindestens fünf Jahre her. Meine Güte, was war damals bloß los mit mir? Mit Haut und Haaren war ich diesem Miststück verfallen, das kann sich kein Mensch vorstellen. Ich am wenigsten, heute jedenfalls.
Woher kennt er sie überhaupt so gut, dass er sogar ihre Daten …? Natürlich, jetzt ist mir alles klar! Er war das also gewesen damals! Hätte ich mir doch gleich denken können.
So eine Drecksau! Erst betrügt sie mich, dann betrügt er mich, und jetzt wollen sie damit auch noch Geld von mir abkassieren. Ich pflückte Rudis Demo-Stick vom Tisch und warf in den Müllschlucker. „Fresst das, ihr Ratten!“
Allmählich aber ebbte die Wut wieder ab. Was soll’s? Das sind doch alles alte Kamellen, das mit Diana. Fünf Jahre sind eine lange Zeit.
Ob sie wohl noch diese kleine Dachwohnung am Stadtrand hat, wo man morgens immer die Vögel beobachten konnte? Eigentlich könnte ich sie ja mal wieder anrufen, fünf Jahre sind schließlich eine lange Zeit. Irgendwo habe ich doch noch ihre Nummer …
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