Eigentlich war Susanne eine moderne junge Frau. Spielte Tennis, ging Ski fahren, Eis laufen und schwimmen. Selbstbewusst und erfolgreich meisterte sie ihren Beruf als Filialleiter-Anwärterin in einem großen Modehaus. Susanne lebte in einer kleinen Vorraum-Bad-Küche-Zimmer-Wohnung, die sie nach ihrem Geschmack – modern, aber doch gemütlich – eingerichtet hatte. Im Zimmer vor der, der Tür gegenüber liegenden, Wand, stand die Couch, die sie am Abend zum Bett umfunktionierte. Vor der Couch befanden sich der niedrige Tisch und zwei Fouteuilles. Die linke Wand füllte ein breiter Schrank aus, rechts erhellte ein Fenster den Raum und eine Tür führte auf einen schmalen Balkon. Neben der Tür, die den Vorraum mit dem Zimmer verband, stand ein Tischchen mit einem kleinen Fernseher darauf. An der Wand, über der Couch, hingen unterschiedliche Bilder. Susanne legte sich geschmacklich nicht fest. Ihr gefiel vieles, es musste nicht unbedingt nur eine Stilrichtung sein. So hing da ein Poster, das einen Ausschnitt aus Michelangelos „Erschaffung des Adam“ zeigte neben dem Bild eines zeitgenössischen Malers. Susanne hatte es auf einer Ausstellung erstanden und war sehr stolz darauf. Auch eine Berglandschaft und eine See mit Schiff zierten die Wand.
So lebte, arbeitete, amüsierte sich Susanne bis ... ja, bis zum Tag ihres fünfundzwanzigsten Geburtstages. Für den Abend hatte sie einige Freunde eingeladen und Sekt und Knabbergebäck hergerichtet. Zwei Freundinnen, eine Arbeitskollegin samt Mann und Susannes Freund Andreas erschienen pünktlich. Nicht ohne Geschenke natürlich. Andreas schleppte ein großes, flaches Etwas an. Susanne entfernte das Papier, ein Bild kam zum Vorschein. Es zeigte eine kleine, bauchige Vase, in der ein riesiger Blumenstrauß steckte. Rechts von der Vase ein blütenpickender Vogel, links ein Schneckenhaus. Alles auf schwarzem Hintergrund. Den Blumenstrauß dominierte ein tulpenartiger Blumenkelch, der alle anderen Blüten übertrumpfte. Susanne war sofort fasziniert von diesem Bild. Sie hängte es gleich über der Couch auf.
Als Susanne später endlich mit Andreas allein war, richtete sie das Bett her, und sie kuschelten sich eng aneinander.
„Ein schöner Geburtstag. Ich danke dir.“
„Mir?“
„Für das Bild.“
„Ach so. Freut mich, wenn’s dir gefällt.“
Er streichelte sie zärtlich. Doch Susannes Blick wanderte immer wieder zu dem Bild.
Am nächsten Tag war Susanne bei der Arbeit unkonzentriert. Sie schob dies auf
den langen Geburtstagsabend, an dem sie wohl auch etwas zuviel getrunken hatte.
Als sie nach Feierabend in ihre Wohnung kam, zog es sie gleich zum Bild hin.
War da nicht noch eine Blüte, die sie gestern gar nicht bemerkt hatte?
Irgendwie zog das Bild sie magisch an. Und als Andreas später kam, musste er mit ihr das Bild betrachten.
„So, jetzt reicht’s aber“, meinte er nach einer halben Stunde Diskussion über das Bild und lachte dabei.
„Jetzt gehen wir essen. Ich lad’ dich ein.“
„Och, eigentlich habe ich heute keine Lust zum Ausgehen. Ich koch’ uns hier was, okay?“
Nach dem Essen bat sie Andreas zu gehen. Sie wäre müde und möchte sich gleich hinlegen. Das war das erste Mal, dass sie ihn wegschickte. Etwas nachdenklich ging er, nachdem sie auf seine verwunderten Fragen nicht näher eingegangen war.
Als Andreas weg war, eilte sie wieder zum Bild. Sie wunderte sich selbst über diese Anziehungskraft des Bildes und doch vermochte sie sich ihrer nicht zu entziehen. Sie musste es einfach betrachten, betasten und als sie sich schließlich nach zwei Stunden erschöpft schlafen legte, fühlte sie eine tiefe innerliche Befriedigung.
Am nächsten Morgen war die Unruhe, die sie bereits am Tag zuvor während der Arbeitszeit verspürt hatte, wieder da. Mechanisch nahm sie plötzlich alle anderen Bilder von der Wand. Sie fand, dass dieses eine besondere Bild genug Ausdruckskraft besaß, um dem Zimmer Fülle und Leben zu geben. Und nach Feierabend wiederholte sich der Ablauf des Vortages.
Dann, in der Nacht, hatte sie den ersten Traum:
Sie betrachtete das Bild. Näher und näher trat sie an das Bild heran. Fasziniert starrte sie auf den großen tulpenartigen Blütenkelch und spürte, dass er zu leben begann. Sie hob ihre Hand, zärtlich strichen ihre Finger über die Blume. Plötzlich fühlte sie, dass ihre Hand hineingezogen wurde, immer weiter, immer stärker. Sie wollte sie zurückziehen, doch es gelang ihr nicht, die Blume sog sie immer weiter hinein. Alle Blumen schienen mit einem Mal zu leben und die große, tulpenartige sog und sog, öffnete den Blütenkelch mehr und mehr und nahm Susanne ganz in sich auf.
Der Schweiß klebte an Susannes Körper, als sie erschrocken aufwachte. Blass, mit weit aufgerissenen Augen, starrte sie auf das Bild. Dann stand sie auf und nahm es ab. Sie stellte es hinter den Schrank und legte sich danach erleichtert wieder schlafen.
Frisch ging sie am nächsten Morgen zur Arbeit, fröhlich ging sie am Abend mit Andreas aus, der sich schon darüber freute, dass sie wieder zu sich selbst gefunden hatte.
Doch in dieser Nacht kam abermals dieser Traum und in der Nacht darauf ebenfalls. Und dann hielt sie es nicht mehr aus. Sie holte das Bild wieder hervor und hängte es an seinen alten Platz.
Es wurde Tag und die Unruhe nahm wieder Besitz von Susanne. Sie ging heute nicht zur Arbeit. Mal stand, mal kniete sie vor dem Bild und ließ es auf sich wirken. Es berührte sie tief innen. Es weckte Gefühle, die sie längst überwunden zu haben glaubte. Gefühle aus ihrer früheren Jugend und Kindheit. Angsterregende Gefühle.
Die Angst, die sie als Kind immer vor Männern gehabt hatte, seit einer brutal versucht hatte, sie zu missbrauchen. Jemand war ihr damals zwar zu Hilfe gekommen, bevor das Schlimmste passiert war, aber trotzdem, die Gier und die Brutalität des Mannes waren in ihre Seele gedrungen und hatten sie ängstlich und misstrauisch gemacht. Auch als sie zum Teenager heranwuchs, saß das Erlebte noch in ihr, wenn auch abgeschwächt. Aber es war da. Und es kam immer wieder zum Vorschein, wenn sie daran war, sich zu verlieben. Etwas blockierte sie.
Erst später, als sie ihren Beruf und Freundeskreis hatte, ihre eigene Wohnung bezog; erst da, als sie langsam Selbstbewusstsein entwickelte, gelang es ihr, das Erlebnis tief in ihrem Innern zu vergraben. Die Arbeit, die Freunde, ihre sportlichen Aktivitäten, dies alles füllte sie aus. Und sie verliebte sich in Andreas. Das erste Mal konnte sie sich verlieben, ohne dabei blockiert zu werden. Beinahe zwei Jahre war sie bereits mit Andreas glücklich und nun brachte er dieses Bild. Und dieses Bild bewirkte auf unerklärliche Weise etwas in ihr, das diese lang vergrabenen Gefühle von neuem hervorbrechen ließ.
Auch die folgenden Tage raffte sie sich nicht zur Arbeit auf. Sie erfand stets neue, phantasievolle Ausreden und eines Tages war ihr sogar das egal. Sie entschuldigte sich überhaupt nicht mehr. Auch Andreas vernachlässigte sie und fand keine Zeit mehr für ihn. Den Fernseher und das Tischchen entfernte sie aus dem Zimmer, da sie diese Dinge plötzlich störend empfand. So vergingen die Tage.
Eines Abends kam Andreas wieder, in der festen Absicht, sich diesmal nicht fadenscheinig abspeisen zu lassen, sondern Susanne endlich mal aufzurütteln und in das wirkliche Leben zurückzuführen.
Auf sein Läuten hin öffnete niemand. Ein beklemmendes Gefühl veranlasste Andreas, die Tür aufzubrechen. Susanne war nicht zu sehen. Er ging in das Zimmer und fand es vollkommen leer. Nur das Bild ging an seinem Platz und es schien, als wären die Farben satter geworden.
Gabriele Maricic-Kaiblinger