Während Marion den Bericht las, fühlte sie sich zusehends unwohler. Die kuriosen Geschichten über Fälle menschlicher Selbstentzündung und die daraus entstandenen Theorien bewirkten ein unheimliches Gefühl in ihr.
Marion legte die Zeitschrift beiseite, zog sich aus und duschte. Danach fühlte sie sich wieder besser. Sie schlüpfte in ihre Sandalen, nahm die Zeitschrift und brachte sie zur Altpapiersammelstelle. Nachdem sie so gehandelt hatte, war sie wie befreit. Sie dachte nicht mehr an den Bericht. Das Leben nahm seinen gewohnten Verlauf.
Ihr Leben...
Marion seufzte, wenn sie so über ihr Dasein nachdachte. Verlief es doch ganz anders, als sie es sich stets erträumt hatte. Heiraten wollte sie, Kinder bekommen, einfach glücklich sein. Jetzt war sie bereits über vierzig, verbrachte in ihrer Ein-Zimmer-Wohnung ein Single-Dasein und war mit sich selbst und der Welt unzufrieden. Ja, sie hatte ihren Beruf als Drogistin, war in einer leitenden Position tätig, hatte Freundinnen. Das heißt, früher waren es Freundinnen, jetzt traf die Bezeichnung Bekannte besser zu. Denn meistens waren diese Bekannten mit ihren Familien beschäftigt, für Marion hatten sie selten Zeit, besonders nicht, wenn sie Probleme hatte. Und besuchen konnte sie ihre ehemaligen Freundinnen eben mal, wenn deren Gatten nicht anwesend waren.
An vielen Abenden fühlte sich Marion einsam. Die Trösterchen schlugen sich auf ihre Figur und machten sie träge. An Sport dachte sie gar nicht, denn allein raffte sie sich dazu nicht auf, etwas zu unternehmen. Einsam, unglücklich und mit der Zeit auch noch depressiv. So verlief also Marions gewohntes Leben.
Seitdem sie diesen Artikel gelesen und die Bilanz ihres Lebens gezogen hatte, waren nun bereits drei Monate vergangen. Sie hatte die Episode vergessen. Sie fiel ihr erst wieder ein, als es in der Nachbarschaft brannte. Die hoch auflodernden Flammen weckten Schauer in ihr. Wie hatte es da in dem Artikel geheißen? Phosphagen entsteht im Gewebe einiger Menschen, die sich wenig bewegen. Geschwächte, verzweifelte, ängstliche, verärgerte, depressive Menschen erzeugen durch ihren psychischen Zustand ein chemisches Ungleichgewicht in sich, die Temperaturregelung wird beeinträchtigt. Ein innerer mieser Zustand, danach erhöhte Sonnenfleckenaktivität, ein extrem stark aufgeladenes geomagnetisches Feld... magnetische Partikel... dann... dann reicht ein Funke, kosmische Energie... psychischer Selbstmord...
Ach was! So ein Blödsinn! Kosmische Energie...
Warum fielen ihr nur jetzt alle diese Ausdrücke ein, die doch in keinem Zusammenhang mit diesem brennenden Haus standen?
Sie schloss ihr Fenster und ging zu Bett. Doch von da an gönnte ihr das Schicksal keine kühle Minute mehr.
Den ganzen Sommer hindurch fühlte sie sich heiß, zerschlagen, matt. Sie schrieb
es der Sommersonne zu.
Nun war es bereits September. Es war noch heiß und Marion beschloss, sich ausnahmsweise mal einen Urlaub zu leisten. Einmal entspannen, dem Alltag mit seinen Problemen entrinnen, neuen Lebensmut tanken. Vielleicht half das, ihre immer stärker werdende Lethargie dem Leben gegenüber zu vertreiben. Sie entschloss sich für Griechenland. Wasser, Strand, Olivenbäume konnten dazu beitragen, ihr Gemüt wieder aufzuhellen.
So war sie also hier gelandet. Der kleine Bungalow, den sie gemietet hatte, stand etwas außerhalb des Fischerdorfes auf einem niedrigen Felsen. Diesen Ort hatte sie absichtlich gewählt, um in aller Ruhe zu sich selbst finden zu können. Eine Viertelstunde zu Fuß abwärts und sie gelangte an einen herrlichen Sandstrand. Einmal am Vormittag kam jemand vorbei und brachte Milch, Brot und was sie sonst noch benötigte. An den Nachmittagen lag sie am Strand oder schlenderte durch den Ort und besah sich die Souvenirläden oder trank Kaffee.
Nach einer Woche fühlte sie sich verlassener als je zuvor. Das Wasser, die Sonne, die fröhlichen Menschen, nichts half dagegen. Die Einsamkeit griff wie eine kalte Hand nach ihrem Herzen.
Am Morgen dieses Tages war sie besonders depressiv. Bereits beim Aufwachen fühlte sie sich miserabel. Keuchend schleppte sie sich zum Fenster und riss es auf. Eine kühle Brise wehte herein, aber sie schwitzte immer noch. Vor dem offenen Fenster schlüpfte sie aus dem Nachthemd, um sich dann wieder aufs Bett fallen zu lassen. Erst gegen Mittag zwang sie sich aufzustehen. Nach einem üppigen Frühstück, das sie hinunterschlang, trat sie vor den Bungalow. Eine Tasche mit Lebensmitteln stand vor der Tür. Die Sonne brannte heiß, und es wurde ihr abermals übel. Sie stütze sich auf das Geländer und blickte auf das Meer. Möwen kreisten und kreischten über dem Wasser. Die Kraft der Sonne drückte sie nieder. Sie ging ins Haus und legte sich wieder aufs Bett. Kurz schlief sie ein, dann schreckte sie hoch. Um fünf Uhr Nachmittag hielt sie es nicht mehr aus. Sie ging zum Strand hinunter. Das Wasser beruhigte sie. Sie fühlte sich etwas wohler.
Marions Füße bewegten sich langsam. Zwischendurch bückte sie sich, hob etwas Sand auf und ließ ihn durch die Finger rieseln. In dem Moment wurden ihre Fingerspitzen ganz heiß und es stoben Funken heraus. Marion erschrak. Sie ließ das Spielchen bleiben und ging weiter. In der Ferne sah sie einen Fischer auf sich zukommen.
Bei dem kleinen Felsen hielt sie an. Als sie sich dagegen lehnte, durchzuckte es blitzschnell und heiß ihren Rücken, fuhr durch ihre Arme und aus ihren Fingerspitzen stoben abermals Funken.
„Heut’ liegt was in der Luft“, sagte der Fischer, der auf einmal vor ihr stand. Entsetzt starrte Marion ihn an.
„Die Luft knistert...“, fügte er noch geheimnisvoll hinzu, dann schlurfte er davon.
Marion blickte ihm lange nach, betroffener geworden, als sie es sich selbst eingestehen wollte. So lange, bis sie ihn nicht mehr sah. Dann heftete sie ihren Blick auf seine Spuren, die wie ein eingetretenes Zeichen im weißen Sand wirkten. Langsam setzte sie ihre Füße in die Spuren, einen nach dem anderen und folgte so dem gleichen Weg. Irgendwann blieb sie stehen und schaute aufs Meer. Das immerwährende Platschen wirkte beruhigend. Doch es verstärkte auch die trüben Gedanken. Es schaukelte Marions Gedanken tief in die Seele hinab. Die versinkende Sonne durchflutete die Szenerie mit ihrem Rot.
Plötzlich stoben Funken und dann Flammen aus Marions Körper.
Sie schrie nicht.
Mit weit ausgebreiteten Armen lief sie dem Wasser entgegen.
Gabriele Maricic-Kaiblinger