… Er ging früh zu Bett,
vergrub sich unter seiner Decke aus Schaffell und tat als schliefe er.
Geduldig wartete er, bis
die Lampen gelöscht und die ruhigen Atemzüge der anderen zu hören waren;
wartete, bis das milchige Mondlicht durch die Wände aus Eisquadern fiel.
Dann stand er auf. Leise,
darauf bedacht, über nichts zu stolpern, zog er sich die dunklen Stiefel an,
schlich zur Tür. Ein knarrender Laut – der genauso gut vom Wind hätte verursacht
werden können –, als er den Riegel zurückschob und in die eisige Nacht
hinaustrat. Niemand würde je erfahren, was er nun vorhatte, warum er sich in
die Tiefen des Waldes schlich, in den Schutz der Schatten, die seine Freunde
waren. Niemand würde es kümmern, wenn er am nächsten Morgen müde und abgekämpft
aus dem Bett stieg. Er hatte alles Glück auf seiner Seite und doch hatte er
sich einen Plan für den Notfall zurechtgelegt – sicher war sicher!
Lautlos huschte er durch
das stille Lager, dem Wäldchen entgegen, dessen mannshohe Fichten rauschend im
kalten Wind schwankten. Über ihm der dunkle Nachthimmel, an dem die Sterne
leuchteten, stecknadelkopfgroß, unendlich weit weg, aber zum Greifen nah.
Bevor er in den Schutz der
Bäume trat, sah er sich noch ein -
mal um. Auf dem aufgeschütteten
Erdwall, der das Lager umgab, sah er sie patrouillieren, die Slorten, schwarze
Gestalten bis zu den Zähnen bewaffnet. Es mochte vielleicht unmöglich erscheinen,
in das Dorf einzudringen, aber herauszukommen war für ihn um so einfacher.
Keiner würde Fußspuren finden, keiner das leere Bett bemerken – dafür hatte er
gesorgt!
Als das wohlbekannte
Zittern seinen ausgemergelten Körper durchfuhr, hatte er sich schon durch das
Unterholz geschlagen und in einer natürlichen Mulde niedergekauert.
Das Zittern wurde stärker.
Er konnte die unsichtbare Welle spüren, die brausend auf ihn zu gerollt kam,
mit unbändiger Wucht über ihm zusammenschlug und ihn in einen bodenlosen,
dunklen Abgrund hinab zog. Ächzend wandte er seinen Blick gen Himmel, seinen
bebenden Körper kaum noch unter Kontrolle. Gerade schob sich eine Wolke vor den
bleichen Mond.
Ein Schmerz, tiefgründig
und heiß, durchzuckte ihn; er merkte, wie sich seine Arme und Beine streckten,
zu weichen Pfoten wurden. Der Rücken bog sich durch, sein Schädel nahm eine
spitzere Form an. Es wuchs ihm ein Fell, das ihn von Kopf bis Fuß bedeckte,
anstelle seiner Nase reckte sich eine feuchte Schnauze dem Sternen beglänzten
Firmament entgegen. Sein Blickfeld veränderte sich, er konnte fremde Gerüche
wahrnehmen, das Geräusch unzähliger Füße auf dem festgetretenen Schnee hören.
Der Wald schien mit einem Mal voller Leben zu sein!
Ein knurrender Laut, als
er mit einem gewaltigen Satz aus der Mulde heraussprang, durch das dichte
Unterholz preschte; es war ein Laut der Freude und des Glücks.
Leichtfüßig rannte er
durch das Wäldchen und erreichte
hechelnd Qéh Radh, einen
kleinen, leise gurgelnden Bach an dessen seichten Rändern sich dünne Eisplatten
gebildet hatten. Der Mond kam wieder hinter der Wolkenbank hervor, als er in
das eisige Wasser trat und seinen Kopf über die beschienene, ruhelose
Oberfläche senkte...
Er sieht einen mageren
Hund mit zotteligem, gräulichem Fell; einen Hund, der mit gespitzten Ohren in die
Dunkelheit lauscht, bereit, jedem hervorbrechenden Angreifer an die Kehle zu
springen. Sein Maul verzieht sich zu einem Grinsen...
Nur zögernd konnte er sich
von seinem Spiegelbild abwenden, doch dann raffte er sich auf, sprang am Wasser
entlang und erreichte eine unberührte, im Mondschein glitzernde Lichtung.
Sehnsüchtig stand er da, blickte zwischen den eng stehenden Stämmen der Fichten
hindurch in die Imtashá hinaus. Das unbändige Verlangen dorthin zu jagen, im
Schnee zu toben, überkam ihn. Aber da draußen wartete nur der sichere Tod auf
ihn.
Wehmütig drehte er sich
um, jegliches Geräusch war verstummt und eine gespenstische Stille breitete
sich auf der Lichtung aus. Er wusste, dass er nicht auf sich warten lassen würde.
Er wusste, wie wichtig, aber auch schwierig dieses geheime Treffen für sie beide
war. Und dann hörte er es : das Rauschen
großer Flügel.
Er hob den Kopf und sah,
wie ein riesiger Adler einen kurzen Moment über den Baumwipfeln schwebte und
dann pfeilschnell mit ausgestreckten Klauen hinabstieß.
Als das Tier den Boden
berührte, stand ihm anstelle seiner plötzlich ein schlanker, mittelgroßer Felti
in abgerissener Kleidung gegenüber. Er hatte glattes, braunes Haar, ein
vernarbtes Gesicht und eine Klappe über dem rechten Auge.
„Sieh an!“, meinte der
Felti mit unnatürlich kreischender Stimme, die seinem Gegenüber unweigerlich
einen kalten Schauer über den Rücken jagte. „Du hast unser Treffen nicht
vergessen, Sillmak!“
Der Hund vor ihm sah ihn
abschätzend an. „Nein, Yamar“, knurrte er. „Obwohl es einige Vorkehrungen zu
treffen gab, um hier her zu kommen. Bringst du Nachricht aus dem Süden?“
„Otanah ist weiter in den
Westen dieses Landes vorgestoßen“, meinte der Felti, ohne dass eine Regung in
seinem vernarbten Gesicht zu sehen war.
„Das habe ich dich nicht
gefragt!“
„Der Schwarze Fürst rüstet
sich“, sagte der Felti schrill und blickte den Hund unbewegt an, der still und
abwartend vor ihm saß, nur wenig kleiner als er selbst. „Er beginnt seine
Diener zu rufen.“
„Woher weißt du das?“,
knurrte das Tier misstrauisch.
„Ich bin ein Keld,
Sillmak, hast du das vergessen?!“
„Nein.“
„Ich pendle die ganze Zeit
zwischen Norden und Süden, Osten und Westen, trage Informationen zusammen – im
Gegensatz zu dir. Du hättest dich schon längst aus dem Staub machen sollen,
anstatt in diesem abscheulichen Lager dahinzuvegetieren. Die ersten Unak werden
in drei, höchstens vier Tagen auf euch stoßen und da wäre es doch schade, wenn
ich dem Promun nachher den bleichen, leblosen Körper eines Mischlings übergeben
müsste?!“ Yamar grinste höhnisch.
Der Schrei eines Waldvogels
drang durch die Nacht, kurzes Flügelschlagen, dann war es wieder still.
„Der Promun weiß nicht,
dass ich hier bin“, raunte der Hund und diesmal war er derjenige, der grinste.
„Ich habe mich seit September nicht mehr bei unserem Obersten blicken lassen.“
„Ach, was du nicht sagst.“
Yamar verschränkte die Arme vor der Brust, musterte Sillmak eine Weile und
sprach: „Kennst du Uso`ka?“
„Die steinerne Festung in
den Ausläufern Okapans, deren Existenz erst im Herbst bekannt wurde, als die
Slorten einfielen? Die steinerne Festung aus glattem Fels, die wie ein dunkles
Tier in der Schlucht von Hanrhús lauert, dicht an die schroffen Bergrücken
gepresst?“
Yamar nickte. „Genau die
meine ich, aber vergiss dieses Schwärmen von Dingen, die du noch nie mit
eigenen Augen gesehen hast. Uso`ka ist durch eine Verkettung unglücklicher
Zufälle zerstört worden – das ist meine
Nachricht aus dem Süden für dich!“
Die scharfen Augen des
Hundes verengten sich. „Seit wann interessiert sich ein Adler wie du für
feindliche Festungen in den unzugänglichen Bergen Okapans?!“
„Ich bin ein Keld, kein
Adler“, verbesserte Yamar. „Und der Grund, weshalb ich meine Rundflüge in die
Gebirge verlegt habe, ist folgender.“ Genüsslich schob der Felti seine Hand
unter das Band der Augenklappe, öffnete es und sah seinen
Gegenüber an. Sofort wich
der Hund mit gefletschten Zähnen zurück.
„Was haben sie mit dir
gemacht?“, stieß er hervor. Viel hatte er erwartet, ein blindes, krankes oder
gar nicht mehr vorhandenes Auge, aber was er nun sah, verschlug ihm den Atem:
Das rechte Auge des Kelds
war lidlos, schwarz, unergründlich und voller Kälte. Doch noch mehr nahm einen
die Pupille gefangen. Sie war von einem starken Gelb, hypnotisierte
unweigerlich und erlaubte nicht, in eine andere Richtung zu sehen.
„Was sie mit mir gemacht haben?“,
echote Yamar voller Genugtuung, während ihn das Tier wie gefesselt anstarrte.
„Das ist schnell erklärt: Mein Auge ist sein Auge. Wir teilen es uns wie zwei Brüder.“
„Von wem sprichst du?“
„Ich spreche von Ogar
Ursah, dem Slorten mit dem dunklen Umhang, vor dem ihr ehrwürdig die Blicke
senkt, wenn seine Macht euch in die Knie zwingt. Er sah mich zufällig vor einigen
Tagen über den Hügeln schweben, während ihr den Fluss Gikuuj überquert habt. Ich habe euch durch
die endlose
Schneelandschaft geführt, ich war es, der euch den Weg zu der verlassenen Siedlung
wies. Das letzte Mal erhaschte der Feldherr einen Blick auf mich, als ich in
diesem Wäldchen hier verschwand. Deshalb hat er auch die Kundschafter
losgeschickt, mit dem Auftrag, mich zu finden. Und nun bin ich sein Berater,
sein Bote. Er sieht, was ich sehe, er hört, was ich höre – er braucht nur in
seine gelbe Kugel zu blicken, die so stechend und heiß wie das schwarze Feuer
der Sedozâth selbst ist...“ Sillmak bemerkte mit Schrecken, dass sich ein
triumphierendes Grinsen auf dem vernarbten Gesicht des Feltis ausbreitete, als
dieser fortfuhr: „Nur eines weiß der gute Ogar nicht: dass ich ein Keld bin!
Das einzige Wesen im ganzen Reich Dimrions, das ein so unscheinbares Leben als
Felti führt, doch sich zu jeder Gelegenheit in die Lüfte erheben und in
Adlergestalt davonfliegen kann, weil -“
„Yamar!“, unterbrach ihn
der Hund und wandte den Blick von dem hypnotisierenden, schwarzen Auge mit der
gelben Pupille.
„Du hast dem Promun einst
einen Eid geschworen, auf dass du ewig im Dienst der Gilde stehst – das waren
die Spielregeln für uns alle!“
„Dann haben sich die
Spielregeln eben geändert“, fauchte Yamar. „Der Promun ist geschwächt, er wird
nichts unter -nehmen. Mit jedem Keld und jedem Mischling, der aus der Gilde
austritt, wird er an Kraft verlieren.“
„Aber weshalb sollte unser
Oberster wegen dir plötzlich kraftlos werden? Wegen einem einzigen
Keld, der meint, den Großen zu spielen?“, meine der Hund und schüttelte sich.
„Nicht nur ich habe den
Verband verlassen“, antwortete der Felti und ein seltsames Lächeln huschte über
sein entstelltes Gesicht. „Es hat sich seit September viel geändert. Selbst
Zuntil ist in den Dienst von Ogar Ursah übergetreten!“
„Das kann gar nicht
sein!“, widersprach Sillmak. „Das würde er niemals tun, er ist ein Mischling,
er hat dem Promun immer treu gedient. Der Führung des Gelben Schlangenordens
untergeordnet zu sein, bedeutet der sichere Tod und das weißt du genauso gut
wie ich, Yamar!“
„Du willst es nicht
begreifen, oder?“ Der stechende, verständnislose Blick des unterschiedlichen
Augenpaars seines Gegenübers traf Sillmak so unterwartet, dass er taumelte.
„Uns steht eine wunderbare
Zukunft bevor, uns, die wir das Angebot der
Läufer angenommen haben. Wir brauchen uns nicht zu fürchten, wir sind absolut
frei und gehören nun denjenigen an, die auf die unterdrückten Wesen des
sterbenden Reiches spucken!“
Grinsend drehte sich der
Keld auf dem Absatz um, sprang vom Boden ab. „Viel Spaß noch und sei gewarnt!“,
gellte der Schrei eines Adlers an das empfindliche Ohr des Hundes, der allein
auf der Lichtung zurückblieb – das graue Fell über dem knochigen Körper
gesträubt, das Gebiss entblößt. …