Das Kind

Es war das leise Pochen, welches hohl durch das Haus wallte, dafür zuständig war, dass Hendrik Karter wieder einmal aus den wohl verdienten Schlaf gerissen wurde, ihn aufschreckte und blinzelnd in die Dunkelheit schauen ließ. Er gähnte nicht einmal, war augenblicklich hell wach, wusste, was nun passieren würde. Es würde sich wiederholen, ständig und stetig, immer wieder, bis es dann, meistens um vier Uhr morgens, aufhörte und er endlich wieder einschlafen konnte, um am nächsten Morgen bleiern und schlecht gelaunt aufstehen konnte, um den beschwerlichen Weg zur Arbeit zu gehen. Jetzt aber, um nicht einmal ein Uhr morgens, war es noch weit bis zu den frühen Morgenstunden. Die Hand, welche eigentlich unter der Bettdecke lag, wanderte hervor, umklammerte den Stoff und produzierte gleich Schweiß, der sich fröstelnd und nass über seinen ganzen Körper legte.

Hendrik war eigentlich ein Mensch, der gut mit ungewohnten, nicht erwarteten Situationen umgehen konnte, der sich schnell auf Ereignisse einstellte, die andere Personen für einige Augenblicke oder Minuten aus der Bahn warfen. Hier aber, bei diesen Geräuschen, stieß nun auch er an Grenzen, wünschte sich nichts sehnlicheres, als endlich wieder einmal so durchschlafen zu können, wie es für normale Leute eigentlich üblich war. Als er dann aber wieder das Geräusch hörte, dass sich tief in sein Nervensystem bohrte, spürte er den Herzschlag, der sich beschleunigte. Einmal schluckend, dem hallenden Klopfen lauschend, atmete er tief ein und überlegte sich zum hundertsten Mal, ob er nun endlich aufstehen sollte, um die Quelle der Störung ausfindig zu machen. Doch jedes Mal, wenn er meinte endlich den Mut zu finden, um die warme, schützende Decke beiseite zu schieben, überkam ihn seltsames Gefühl von Furcht und Unverständnis. Ließ ihn nicht so handeln wie er gerne wollte, nagelte ihn regelrecht fest, auf der Matratze, die immer noch diesen Geruch von neuem in sich trug. Denn lange wohnte er noch nicht in diesem Haus, war erst vor kurzen eingezogen und hatte es jetzt gerade einmal geschafft, alles soweit zu renovieren, dass er der Meinung war, andere Menschen einladen zu dürfen.

Er verstand nun auch, warum er das Haus so billig bekam, warum der Makler ohne große Umschweife dazu überging, den Mietvertrag auszuarbeiten, der dem Verkäufer eigentlich mehr Nachteile als Vorteile brachte. Im ersten Moment wollte Hendrik dieses alles auf die Unerfahrenheit der jungen Frau schieben, die mit ihm die Räume durchging, ihn von den kaputten Rohrleitungen erzählte, die die Maklerei aber erneuern lassen wollte, wenn er das Haus denn nahm. Auf diese Höflichkeit war er hineingefallen, hatte sich nach bester Manier über das Ohr hauen lassen und bekam nun eine Rechnung präsentiert, die er mit Geld niemals bezahlen konnte. Schließlich waren es seine Stunden, die ihm zu völligen Erholung fehlten.

Er atmete flach, merkte, dass es wieder einmal beträchtlich kälter wurde im Raum, in dem er schlief, und wunderte sich nicht einmal mehr darüber. Es gehörte irgendwie dazu, wenn er nachts aufwachte, lauschend da lag. Zu Anfang, die ersten drei bis vier Nächte, war er fast gestorben vor Angst, als er merkte, wie die Luft eisig wurde, anfing zu gefrieren.

Nun aber nahm er es hin, mit einer makaberen Art der inneren Bestätigung, die versuchte ihm weis zu machen, die immer wieder erklärend zu ihm sprach, dass es einfach dazu gehörte, dass es in der Nacht merklich abkühlte. Ein anderer Teil in ihm aber weigerte sich strickt dagegen, protestierte regelrecht, ließ den hohen Blutdruck noch einmal deutlich ansteigen, damit auch er sich der Versuchung nicht hingab, falsches zu glauben. Hendrik krampfte die Hände, schloss die Augen, wollte es ignorieren und schaffte es wieder einmal nicht. Auch wen er sich das Kissen über den Kopf drückte, so wie in diesen Moment, als er erwachte, musste er es weiter hören, dieses monotone, grässliche Geräusch, welches ihn mehr und mehr an einen Zusammenbruch brachte. Außerdem gesellte sich etwas anderes, klagendes, zu dem Pochen, vermischte sich mit diesen. In der ersten Nacht war es Hendrik gar nicht aufgefallen, war sozusagen im Strudel der Ereignis untergegangen, jetzt aber kroch es hervor, auf seine sadistische, makabere Art, dass der Einzelhandelskaufmann sich wünsche, niemals hier her gezogen zu sein. Denn es war ein Laut, vielleicht menschlicher, aber sicherlich tierischer Art, das sich durch die Stille der Nacht bewegte, zu ihm drang, mitten ins Gehör, ihn wissen ließ, dass er diese Nacht nicht alleine verbringen würde.

Es war eine Gewissheit, die ihn noch einmal mit Furcht überschüttete, ihn in einen Bottich aus Angst und schlechten Träumen stieß. Schließlich kannte er die Prozedur, obwohl sie in dieser Nacht anders erschien. Sie war nicht ganz so zurück haltend, viel mehr fordernder, viel offener, und brachte dadurch einen Reiz mit sich, der Henrik störte, ihn noch mehr überforderte. In diesen Momenten, als er diese Stimme, lieblich und kindlich, vernahm, wünschte er sich, dass seine Freundin doch endlich wieder aus England zurück kehren würde, dass sie es endlich schaffte, ihr viel zu lang dauerndes Projekt zu beenden.

Er nickte, als er sich im Klaren darüber wurde, dass er nichts mit einem Tier zu tun haben würde, denn der klagende Ruf, hörte sich eindeutig nach einem langen Wort oder schnell gesprochenen Satz an. Einen sich wiederholender, immer wiederkehrender Wortlaut, der Hendrik nun endgültig davon überzeugte, aufstehen zu müssen.

Noch einmal hörte dieses Klopfen, so dicht an seinen Ohren, dass er meinte, hinter ihm, in der Wand, würde jemand verborgen stehen, die Hand zur Faust machen und immer wieder pochend gegen die Verputzung hauen. Eine Vorstellung, die sicherlich keine schönen Gedanken in ihm wach rief, ihn viel mehr zu der Überzeugung brachte, endlich das Bett zu verlassen, aus diesem zu verschwinden, um erst einmal schwer atmend, vor diesem stehen zu bleiben. Mit kritischen, eng zusammen gekniffenen Augen auf die tapezierte Wand blickend, dorthin, wo er meinte das Pochen zu hören, fröstelte ihm wieder, als er den kalten Windstoß verspürte, der mit einmal durch den Raum wehte, sich verfestigte, so unter seine Kleidung stieß, dass er die Arme vor den Oberkörper zusammen schlang, zu dem Fenster blickte, welches hinter dem Rollo verborgen lag. So weit er wusste, war es nicht offen, denn selber hatte er es geschlossen, da ihn die Nächte noch zu kalt erschienen, um sie frisch und naturnah erleben zu dürfen.

Und trotzdem machte er sich auf den kurzen Weg, um hinter den Stoff zu blicken, auf dem einige Sterne, ein Mond abgebildet waren, die einem angeblich vorspielten, einen schnellen und sicheren Schlaf zu finden. Als er aber das Rollo beiseite schob, um sich eine Bestätigung zu hohlen, schreckte er zurück, spürte, wie ihm jegliches Blut aus dem Gesicht wich. Er stieß einen keuchenden Laut aus, schluckt hart und ließ augenblicklich alles los, was seine Hand hielt. Denn das, was seine übermüdeten Augen ihn zeigten, was sie ihn darstellen, waren mit dem normalen Verstand eines Menschen nicht zu begreifen.

Er wich zitternd zurück, wischte sich mit der Hand durch das Gesicht und nickte sich selber zu. Die trockene Zunge huschte über die spröden Lippen, hinterließ einen schleimigen, übel riechenden Speichel, der Hendrik sofort ekelte. Der kalte Schweiß, welcher schon zu trockenen begann, wurde wieder flüssig, wurde zu einzelnen Perlen, die anfingen sich auf seiner Stirn zu sammeln. Und doch konnten sie nicht das weg spülen, was er eben sehen musste, was er erlebte, als er die Reflektion in der Scheibe erblickte. Es war ein Gesicht gewesen, in welches er blicken musste. Im ersten Moment war er sich nicht einmal sicher gewesen, wollte sich mit aller Macht dazu überreden, sich getäuscht zu haben, aber dieser Ausdruck, welcher in den Augen lag, dieser bittere Zug um die Mundwinkel, konnte einfach nur echt sein.

Außerdem, wenn es eine Täuschung war, war sie so realistisch und Detailtreu, dass er sich über seine eigene Fantasie schon wundern konnte. Dabei gehörte Hendrik Karter gar nicht zu der Sorte Mensch, die über bildliche und wörtliche Weitsicht verfügten, die sich in Sachen so hinein interpretierten, dass man oft meinen konnte, diese Dinge wirklich erleben zu können. Viel mehr war er Realist, einer von dieser Sorte, die alles leicht zynisch und abwerten betrachteten. Nun aber, als er es erkennen musste, was ihm mit einem kurzen in die Augen sehen gesagt wurde, wurde ihm nicht nur kalt, er war kurz davor, zu erfrieren. Denn noch niemals in seinem Leben, hatte er so etwas erleben müssen, war fast so weit zu sagen, in wahre Abgründe geschaut zu haben, die davon berichteten, wie qualvoll und schrecklich die Augenblicke wahren, die dieser Mensch gerade erlebte. Außerdem erzählten sie noch von etwas anderem, etwas bedauerlichen!

Und Hendrik war der Meinung alles genau verstanden zu haben.

Er wusste es mit einer inneren Sicherheit, dass er sich erst einmal setzten musste, dass er an einen Platz treten wollte, an dem er sich fest hielt und hoffte, nicht gleich umzufallen.

So viel Mordlust, so viele bittere Gedanken waren zu sehen gewesen, dass dem Außenhandelskaufmann immer noch ganz schlecht war, obwohl er sich schon seit gut drei Minuten, wie ein ertrinkender am Rettungsring, am Bettpfosten festhielt. Noch einmal zum Fenster gehen, um ein weiteres mal in die Scheibe zu schauen, traute er sich nicht zu, schüttelte selber den Kopf dabei und war froh, als er die Atmung einigermaßen wieder soweit unter Kontrolle bekam, dass er nicht mehr meinte zu hyperventilieren.

Außerdem drangen langsam die normalen, fast logisch wirkenden Gedanken wieder auf ihn ein, dass Hendrik sich beruhigt fühlte, jetzt sogar versuchen wollte, so rational wie möglich an diese ganze Sache heran zu gehen. Erst als er die Hand von dem Bettpfosten nahm, merkte er, wie verkrampft er war, wie die Anspannung in seinem Körper saß und ihn daran hinderte, sich ordentlich und geschmeidig zu bewegen. Alles wirkte alles so steif in ihm, er konnte kaum das Bein anheben, ohne dabei das unangenehme, ziehende Gefühl zu spüren, welches sich vom Oberschenkel bis in den Bauchraum hocharbeitete. Sich nicht weiter beeinflussen wollend, drehte er sich langsam zu der Tür um, die ihn einen sicheren Ausgang zeigte und ihm den Weg geleiten würde zur Küche ,wo er hin wollte, um einen schnellen, scharfen Schluck Whisky zu nehmen, der ihn soweit wieder in die Realität befördern sollte, aus der er meinte hinaus geworfen worden zu sein. Ungewollt!

Noch einmal eisig einatmend, glaubte er gegen eine Wand aus abgestandener, trockener Luft zu laufen, die ihn stehen bleiben ließ, sich schwörend, endlich einmal dauerhaft zu lüften.

Erst als er die knirschende Treppe hinunter ging, sich sicher wahr, aus dem Dunstkreis der Verfolgung heraus gekommen zu sein, stieg in ihm eine Erleichterung auf, die er mit einem Hochgefühl verglich, die man gut mit einen Alkoholrausch vergleichen konnte.

Etwas freier im Kopf, leichter im Gang kam er sich vor und zog aus diesen Grund die Kühlschranktür mit einem Ruck auf, dass die Glasflaschen im inneren ein Konzert harmonischer Klänge von sich gaben. Sie klimperten so herrlich schön an einander, dass Hendrik das eben erlebte schon wieder fast vergaß, es in sein Unterbewusstsein vergrub und nicht mehr daran erinnert werden wollte. Nur der Blick zum Fenster, welches ihm eine schöne Sicht auf den Garten zeigte, der noch etwas wild und unbearbeitet aussah, ließ ihn daran zweifeln wirklich wieder in der normalen Welt zu weilen. Hinzu kam auch noch, dass er meinte Schritte zu hören, tapsende, leise, die zaghaft auf den Boden gesetzt wurden, da der gehende niemanden wecken wollte. Den Whisky an den Lippen, im Begriff zu schlucken, schloss er die Augen, spitzte das Gehör und musste sich eingestehen, nicht mehr alleine zu sein, in dem Haus. Sie hallten ihm entgegen, nackte, tippelnde Schritte, die davon zeugten, dass eine Person anfing nun schneller zu gehen, sich beeilen musste, um noch rechtzeitig ein Ziel zu erreichen, damit nichts in die Hose ging.

Außerdem viel Hendrik wieder etwas auf, was ihm oben im Schlafzimmer schon mal begegnet war, ihn mit einem Schauder erfüllte, dass er die Glasflasche wieder aus der Hand legte, sie zurück setzte an den Ort, von wo er sich die geholt hatte. Es war die Kälte die ihm umfasste, ihn begrüßte, mit einem sadistischen, makaberen Gruß, der ihn augenblicklich eine Gänsehaut über den Rücken jagte. Mit den Schritten, die nun leiser wurden, hätte er sich vielleicht noch anfreunden können, vielleicht einen Kompromiss findend, der ihm erklärte, wie logisch alles war, was er hier erlebte. Aber das zaghafte, kaum verständliche Wort, welches ihm entgegen wehte, ließ ihn eindeutig an seinem Verstand zweifeln, ihn so außer Kraft setzten, dass er sich sicher war, nicht mehr richtig zu ticken im Oberstübchen.

Konzentriert in die schummrige Dunkelheit lauschend, da stehend, sich nicht bewegend, wollte er es verstehen, was ihm erzählt wurde, wollte dahinter kommen, hinter den verborgenen Laut, um dann zu resignieren. Er fiel regelrecht in sich zusammen, konnte die eigentlich straffen Schultern nicht mehr halten und wusste, dass etwas in dieser Nacht geschehen würde, was ihm sein Leben lang verfolgen würde.

Es waren nicht einmal viele Worte, nicht einmal ein wirklicher, verständlich hervor gebrachter Satz und doch trug er eine Botschaft in sich, dass dem armen Hendrik angst und bange wurde.

Dich, hörte er, eigentlich das einzige Wort, welches ihm verständlich erschien und noch etwas, ein weiterer, kaum beachteter Laut, der unmissverständlich von sich gab hohlen.

Schaudernd, die Schulter fröstelnd an den Kopf ziehend, schlich er wie ein Dieb auf die eigenen Küchentür zu, um diese dann zu öffnen, mit einen zitternden, kaum unter Kontrolle bekommenden Hand. Er hauchte die Luft aus, biss sich auf die Unterlippe, um jeglichen Mut zu finden, um endlich Gewissheit zu bekommen, was sich in diesem Haus, seinen eigenen vier Wänden abspielte. Und er erhielt sie in Form von nüchterner Enttäuschung, ein Gefühl welches er sich gar nicht wirklich zutraute, denn als er den leeren Flur erblickte, weiterhin die leisen Schritte vernahm, wollte er auch endlich die dazu gehörige Person erkennen, sah aber überhaupt nichts. Nicht einmal ein wehendes Nachthemd, welches um die Ecke Richtung Keller verschwand, oder einen nackten Fuß, den er noch erkannte, als dieser die Treppe zum Schlafzimmer hochstieg.

Nichts!

Und doch war es noch da, dieses belästigende, gehende Geräusch, welches sich nun näher anhörte, ihn glauben ließ, gleich mit einer Gestalt zusammenstoßen zu müssen, die gerade Wegs auf ihn zu kam.

Dich, flüstere wieder diese Stimme, sie wisperte, hauchte dieses Wort mehr als das sie es sprach und fügte Hendrik diesmal einen Schrecken ein, dass dieser den leisen Schrei nicht unterdrücken konnte, der tief in seinem Herzen geboren wurde. Es war eine Erkenntnis die ihn traf, die ihm versicherte, diese Nacht als ein anderer Mensch zu beenden.

Er zitterte bei diesem Gedanken, überlegte sich, was er machen konnte, um diesen Schicksal zu entgegen und entschied sich dafür, einfach heraus zu treten aus der Küche, um den unerwünschten Etwas endlich zu begegnen.

Hier her, lenkten ihn nun die Worte, die so klar und deutlich in seinem Kopf verankert waren, dass er dem Pochen und Klopfen schon fast keine Aufmerksamkeit mehr schenkte, welches wieder begann, durch das Haus zu wandern. Er lauschte ihm zwar, merkte aber nicht wirklich etwas von der Präsenz und ging einfach, mit monotonen, kaum wirklich zu nennen Schritten, auf die Wand zu, die er gestern Mittag erst fertig gestrichen hatte. Wie vor einer verschlossenen Tür stand er vor dieser, streckte die Hand aus und meinte eigentlich die noch vorhandene Nässe spüren zu müssen, die die langsam trocknende Farbe hinterließ. Zu seiner Überraschung aber, war sie ausgemergelt, so porös wie jahrhundert altes Papier, welches man nach langen suchen in versteckten Truhen und Bibliotheken fand, die aus fremden Zeitaltern stammte.

Ja, bestätigte die Stimme, trieb ihn an, weiter mit den Handflächen über die Tapeten zu fahren, einen gewissen Druck aufzubauen, um diese dann einzureißen, sie kaputt zu machen, damit er einen Durchgang öffnen konnte, damit er in einen dunklen, sich in die Länge ziehenden Korridor schauen konnte, der unmöglich in seinem Haus den Anfang nehmen sollte. Wie unter Trance riss er die herab hängenden Fetzten des bemalten Papiers bei Seite, wischte sie weg, wie ein lästiges Spinnennetz, durch welches man am frühen Morgen schritt.

Ein wehender Hauch von Moder und Fäulnis traf ihn, nahm in jegliche Luft zum atmen.

Nur störte ihn dieses nicht mehr, er ignorierte sich und etwas in ihm schrie danach, einen Ekel erfahren zu müssen, um endlich wieder normal zu denken. Hendrik aber störte sich nicht daran, machte einen großen, waghalsigen Schritt, spürte dabei den nassen, feuchten Untergrund, meinte es tropfen zu hören. Irgendwo, überlegte er sich, muss hier ein Rohr undicht sein. Ein altes, verrostetes, welches mit dem Haus, in dem er lebte, nichts mehr zu tun haben durfte.

Der Gang, durch welchen er schritt, verjüngte sich, wurde schmaler, fast so eng, dass der breit gebaute Außenhandelskaufmann Mühe bekam, aufrecht und gerade zu gehen. Unter seinen Füßen breitete sich nun wässrige, knöcheltiefe Pfützen aus, die einen eisigen, kalten Gruß in sein Hirn sendeten, den er aber einfach ignorierte, ihn bei Seite schob, weiter ging, auf die weitere Öffnung zu, die vor langer Zeit einmal zu einem Zimmer geführt haben musste. Deutlich konnte er in erkennen, den Rahmen der alten Tür, von der Feuchtigkeit aufgedunsen, nicht mehr dazu in der Lage, die Scharniere der Tür zu halten, die mehr und mehr aus dem spröden Holz riss. Eins muss hier die Farbe Weiß dominiert haben, denn einzelne, deutliche Markierungen waren zu erkennen, stemmten sich gegen den nagenden Zahn der Zeit, trotzten diesem, in dem sie sich klammernd an den Wänden hielten.

Die Hand ausstreckend, nach der sich leicht bewegbaren Tür greifend, schob er diese bei Seite, ließ sich selber einen Blick gewährend, in den dahinter liegenden Raum, in dem er im matten Schein einer nicht bestimmbaren Lichtquelle ein Chaos erblickte, dass jeden ordnungsliebenden Menschen in den sofortigen Wahnsinn getrieben hätte. Über den Boden lagen Sachen und Gegenstände verstreut, meistens Spielzeuge, von selbst bastelnden Fingern hergestellt, die man in der heutigen, modernen Zeit niemals wieder fand. Sie mussten alt sein. Verrottet und zerbrochen sahen sie aus, wie erschlagene, leblose Körper lagen die Puppen herum, die kleinen, von Kinderhänden angezogenen Arme lagen in einem grotesken Winkel abgespreizt. Auch erkannte er das Bett, welches unter der Last der Jahre zusammen brach, sich nicht mehr aufrichtete und einem doch noch verriet, dass auf der Matratze eins ein Kind lag, um sich friedlichen, schönen Träumen hinzugeben.

Auch der Schrank, der offen stand, zeigte ein Innenleben, welches von Unordnung geprägt war. Die Kleider, die irgendwann einmal ordentlich auf einem Bügel gehangen haben mussten, waren nun herunter gefallen, zu Bündel, übel riechenden Stoffen verkommen, dass Hendrik sich nun langsam bewusst wurde, woher der penetrante Gestank kam.

Er meinte es auf jeden Fall zu wissen...

Denn als seine Blicke auf etwas anderes, viel schlimmeres fielen, revidierte er seine Meinung und baute sich schnell eine neue auf, die ihm augenblicklich die Farbe aus dem Gesicht trieb. An einem kleinen, runden Tisch sitzend, den Kopf nach vorne gebeugt, erkannte er den Körper einer kleinen Gestalt. Das einst rosa Kleidchen, welches an den Schultern weiße, nun schmutzig, erschlaffte Rüschen zeigte, sprach von einem damals erlebten Reichtum. Die blonden, verfilzten, strähnigen Haare, hingen leb und kraftlos am Kopf des Kindes herab, fielen auf die schrumpeligen, wie Pergament aussehende Haut, über die sich Falten und Flecken zogen, die einen an verwesende Menschen erinnerte. Um den Tisch herum saßen Kuscheltiere, kleine Bären, die makaber aussahen, wie eine Totengesellschaft, die sich mit trauriger, starrer Miene von einem lieb gewonnen Freund verabschiedeten.

Hier kam der Geruch her! Hendrik verstand es mit einmal, wusste, warum er hier war!

Und doch wollte er es nicht begreifen, schüttelte den Bann ab, der über seinen Gedanken lag, diese müde und träge erscheinen ließ. Er taumelte zurück, meinte es nicht aushalten zu können und wunderte sich darüber, als er sich umdrehte, dass die Tür geschlossen war!

Ein Rascheln lag in der Luft, ließ die gesamte Aufmerksamkeit wieder zu dem regungslos dasitzenden Körper gleiten, der aber nicht mehr ganz so leblos wirkte, wie zu Anfang. Die linke Hand war deutlich einem Prozess – fast hektisch wirkender Aktivität – unterzogen, dass Hendrik mit einmal meinte, ein leises Kratzen zu hören, welches davon herrührte, da Fingernägel über Holz gezogen wurden.

Und auch der hängende, nur wie durch ein Wunder gehaltene Kopf, war im Begriff sich zu erheben, Hendrik einen Blick zu gewähren, auf ein Gesicht, welches er schon kannte. Wusste was ihn erwartete. Hinzu kam noch, dass der Stuhl, auf dem der kleine, ausgemergelte Körper saß, nach hinten geschoben wurde, von einer langsamen, aber sicher ansteigenden Kraft, die sich Hendrik nicht erklären konnte.

Der Körper richtete sich auf!

Er stand mit einmal!

Geschmeidig, gut abgerundete Bewegungen, ließen einem nicht glauben, dass hier eine Person vor einem Stand, die niemals am Leben sein durfte. Das war alles unmöglich!

Hendrik hob die Hand, führte sie zum Mund, um den Schrei zu unterdrücken, der mit immer mehr Gewalt versuchte, aus ihm hervor zu brechen. Er trat auf einen weichen, aufgedunsenen, aus Stoff bestehenden Körper, produzierte dadurch ein Geräusch blubbernder, wasserentweichender Schwämme und musste damit erkennen, dass er genau das tat, was er verhindern wollte. Die Bewegungen des Kindes brachen ab, verharrten mit einmal, blieben schwankend stehend. Der runde, unförmige Kopf drehte sich gähnend langsam auf ihn zu.

Hendrik konnte nicht anders, er wollte hier weg, warf sich herum, auf die Tür zu, die er mit einem einfachen Ruck einfach nur öffnen brauchte, um endlich wieder in seinem Haus stehen zu können, welches ihm mehr Sicherheit verlieh, als dieser vergessene Raum. Aber er schaffte es nicht, konnte sie nicht öffnen und wusste mit deutlicher Sicherheit, dass er ein Gefangener war.

Das schlürfende, ziehende Geräusch, ließ ihn fast verrückt werden, machte ihn so rasend, dass er sich wieder umdrehte, sich gegen das Holz der Tür presste und auf das Kind schaute, dass gerade dabei war, eine daliegenden Gegenstand zu ergreifen.

Er wollte etwas sagen, wollte das Kind davon abhalten, diese Waffe einzusetzen, musste aber die Bemühungen abbrechen, bevor er überhaupt begann, die passenden Worte zu finden. Der wankende, nicht sicher stehende Körper, ging nicht auf ihn zu, sondern auf Rohre, die an der Decke entlang liefen, nur erreicht werden konnten, wenn sich jemand auf einen Stuhl oder ähnliches stellte. Absurd sah es aus, wie das Kind nach der wackeligen Lehne griff, sich hoch zog, an dem aufgeblähten Stoffen, um dann mit fast künstlerisch wirkenden Bewegungen gegen das Messing schlug, und dadurch Erinnerungen in Hendrik wach rief, die nicht einmal eine halbe Stunde zurück lagen. Hier her stammten sie also, die Geräusche, verursacht durch ein längst gestorbenes Geschöpf, dass auf sich aufmerksam machen wollte. Nun wollte er ihm helfen, überwand den Schrecken, meinte zu verstehen, was sich vor vielen Jahren hier abgespielt haben musste. Glaubte die Zusammenhänge zu erkennen und wollte dem Wesen endlich die Ruhe geben, die es verdiente. Niemals wieder wollte er es hier eingesperrt wissen.

Doch als er am Stuhl stand, das Kleidchen sah, immer wieder den hohlen Klängen lauschte, beschlich ihn ein Gefühl der Warnung, der Vorsicht, welches er erst nicht wahr nehmen wollte, dann aber mit so einer Stärke spürte, dass er zurückweichen wollte.

Jetzt, in dem letzten Momenten seines Lebens, erkannte er den wirklichen Zusammenhang, verstand ,warum das Kind hier eingeschlossen worden war, konnte es sogar gut verstehen, warum die Eltern einst so handelten. Denn er brauchte nur in die plötzlich herum zuckenden Augen zu schauen, in denen nur all zu deutlich geschrieben stand, dass er die nächsten zwei Minuten nicht mehr überleben würde. Es war eine Falle, eine gut ausgeklügelte, aus Mordlust entstandene, Sackgasse, die Hendrik nun mit seinem Leben bezahlte.

Hier wollte niemand hinaus!

Hier wollte jemand töten!

Und er tat es...

 

Ende

Thomas Tippner