Nebel lag auf Tur an diesem kalten Dezembermorgen. Ablo erwachte spät. Er konnte seine Frau Sorga an der Kochstelle des einfachen Hauses arbeiten hören.
„Guten Morgen, meine Liebe!“ begrüßte der schlaftrunkene Mann die Mutter seiner beiden Söhne, Alesh und Itu. Auf dem dunklen, hölzernen Tisch waren vier Teller und Löffel aus Eichenholz angerichtet. An diesem Tag hatte Ablo seinem Weib versprochen, sich Zeit für seine Lieben zu nehmen. Der von allen im Dorf geachtete Schmied liebte seine Familie über alles, und so war es für ihn kein großes Opfer, die Esse einen Tag ruhen zu lassen.
„Heute ist’s leider kein sehr guter Morgen, Ablo.“ begrüßte ihn Sorga. „Das Holz ist schon fast niedergebrannt, und wir haben keine Vorräte mehr. Hol bitte frische Scheite! Ich möchte die Kleinen füttern.“ bat sie.
Tur lag im unwirtlichen Hochland der Insel Amlinto. Vor allem im Winter beneidete die Familie ihre Verwandten, die in den warmen Küstenregionen des Inselkönigreiches lebten. Ablo warf sich das dicke Bärenfell über seine breiten Schultern und verließ die warme Stube. Die Straßen seines Heimatdorfes waren menschenleer. Lediglich für unbedingt notwendige Tätigkeiten begab man sich außer Haus. Der Nebel lag tief und Ablos Bart glitzerte bald von den zahlreichen winzigen Wassertropfen, die sich darin fingen. Der aufkommende Wind peitschte seine rauen Züge, blähte das wärmende Fell auf dem Rücken des Mannes und vertrieb den grauen Schleier aus den Gassen Turs. So schnell er konnte, schritt Ablo auf den Nadelwald zu. Zuvor musste er aber noch ein weitläufiges Feld durchqueren, das sich am Ende der Hauptstraße erstreckte und im Herbst stets viel Ernte abwarf.
Manche, meist die besten Kunden des Dorfwirts, wollten dort schon fröhliche Feste eines geheimnisvollen Volks beobachtet haben. Elfen und Geister aus längst vergangenen Tagen, hieß es, sollten dort im Dämmerlicht ihren Schabernack treiben. Kreisrunde Spuren hinterließ deren ausgelassener Tanz angeblich in den hohen Halmen des Feldes. Doch noch nie hatte Ablo derartiges am Weg in den Wald mit eigenen Augen erblickt- bis zu jenem Tag.
Leise begann eine Flöte zu spielen.
Beinahe erschrocken fuhr der Mann herum.
Nichts!
Weder näherte sich ihm jemand, noch war der Musikant zu sehen.
Da gesellte sich eine zweite, hellere Flöte zur Ersten, um, gefolgt von einer einfühlsamen Violine, das schönste Lied anzustimmen, das je an Ablos Ohren gedrungen war. Immer mehr Instrumente setzten in die virtuose Melodie ein und zauberten himmlische Harmonien herbei. Sein Innerstes wurde von solcher Grazie angezogen und konnte sich nicht des Dranges erwehren, tiefer in das Feld einzudringen.
Zum ersten Mal entdeckte nun auch er die kreisförmig niedergetretenen Ähren und Stängel. All die Warnungen, all die Ratschläge, sich von solchen Stätten fern zu halten, und all die Ängste waren nun vergessen. Immer lauter wurde das unsichtbare Orchester im Kopf des Mannes.
Der schattenhafte Schleier vor seinen Augen begann sich aufzulösen, und plötzlich konnte er schemenhaft kleine, vergnügte Leute erkennen, die ihren Freudentanz im Inneren der Kornkreise aufführten.
Frauen und Kinder, Männer und Greise, alle hüpften sie ausgelassen, jauchzend und fröhlich umher. Mit jedem Schritt, den sich Ablo auf das merkwürdige Schauspiel zu bewegte, gewannen die Umrisse der Gestalten an Deutlichkeit.
Mit einem Mal schien die Sonne in sein vom Winter geplagtes Gesicht und blendete seine Augen. Ringsum roch es nach Frühling, und hinter der göttlichen Musik konnte er das Gezwitscher junger Vögel erahnen. Als die vergnügten Elfen Ablo bemerkten, lachten sie und winkten ihm freundlich zu.
Nun gab es für ihn kein Halten mehr.
Und plötzlich überschritt er die unsichtbare Grenze in das Reich der Geister, und konnte nun die begnadeten Musiker erkennen, wie sie im Inneren der Kreise auf ihren Schemeln Platz genommen hatten, um die Anwesenden mit ihrem Können zu erfreuen.
Der Himmel schillerte in den fröhlichsten Farben, die Harmonien der Klänge schwollen an und Ablo empfand eine nie empfundene innere Ruhe und Ausgeglichenheit.
Da löste sich eine bezaubernde Schönheit aus der Masse und schwebte auf den Mann zu. „Willkommen Ablo! Mein Name ist Ani. Sei mein Gast für diesen Tanz.“ hauchte sie sanft in sein Ohr.
Dieser Tanz gehörte Ablo und Ani, die so wunderschön war, dass weder die schönste Melodie, der Anblick der See im Sonnenuntergang noch das prächtigste Kunstwerk der freien Welt ihrer Grazie und ihrem Liebreiz das Wasser hätte reichen können.
Und als die Musik ihren Höhepunkt erreicht hatte, da streiften sich die Blicke der beiden, ihre Lippen berührten sich und ein leidenschaftlicher Kuss vereinigte sie.
Doch auch dieser Tanz sollte ein Ende finden, und Ablo war die vollkommene Glückseeligkeit nicht lange gegönnt. Bald verklang die Musik, und die vergnügte Gesellschaft begann langsam vor den Augen des Schmieds zu jenem Nichts zurückzukehren, aus dem sie zuvor zu kurzem Dasein gelangt war. Ablo verstand nicht, und Trauer packte sein Herz, denn auch Ani verabschiedete sich.
Nie vergas er ihre letzten Worte:
„Und wenn mein Leben vergangen,
sei es dir wie ein kleines Lied,
das immer wieder leise durch deine Erinnerung zieht.“
Danach war sie verschwunden, und mit ihrem Entschwinden verbarg auch die Sonne ihre Strahlen hinter einer dicken Wolkenschicht. Ablo fror wieder, und der Wind schnitt sich erneut durch das schützende Bärenfell.
Von der seltsamen Begegnung verwirrt, taumelte er zurück nach Tur.
Doch schon als er die ersten Häuser seines Heimatdorfes erreichte, strich ihm die kalte Hand des Grauens den Nacken entlang und ergriff erbarmungslos sein Herz.
Nichts schien so, wie es noch vor wenigen Minuten gewesen war.
Manche Häuser waren verschwunden, andere mit neuen Farben gestrichen. Einige Häuser schienen verlassen und heruntergekommen.
Die Menschen auf der Straße jedoch waren es, die Ablo am meisten Angst machten. Jeder starrte ihn unverhohlen und mit durchdringendem Blick an. Keine Richtung konnte er finden, aus der er nicht mit erschrockener Miene gemustert wurde. Unruhe und Furcht packten ihn, und so beschleunigte er seine Schritte und wollte nur mehr nach Hause zu seinem geliebten Weib.
Und nun schien es beinahe so, als würde alles Übel der Welt über den Schmied hereinbrechen.
Auch sein Heim hatte sich auf solch bizarre Art und Weise verändert.
Teilweise war es mit Efeu überwuchert und die Fassade war mit neuer Farbe übermalt worden.
Seine Ohren wurden taub, und er fühlte sich einer Ohnmacht gefährlich nahe.
„Herr! Was ist bloß geschehen?“ dachte der verstörte Mann und wankte zum Fenster neben der Eingangstür um einen Blick hineinzuwerfen.
Da weiteten sich seine Augen und jegliche Farbe wich aus seinem Gesicht.
Ein alter, gebrechlicher Mann, dessen ehemals unbeschädigten Kleider nun in zerfetzten Lumpen unter dem Fell an ihm herabhingen, blickte ihm aus der Scheibe entgegen. Sein Gesicht war von einem langen, grauen Vollbart überwuchert, und seine Augen hatten all den vitalen Glanz von einst verloren. Ungläubig fasste sich Ablo an die eingefallenen Wangen, als er plötzlich im Inneren des Hauses seinen erwachsen gewordenen Sohn erkannte.
Der erhob sich langsam und kam auf das Fenster zu. Zweifel und Skepsis konnte Ablo in den Augen seines Sohnes erkennen.
„Vater?“ fragte Alesh nachdem er die Tür geöffnet hatte.
„Mutter...“ begann er. „Mutter hatte mir vor ihrem Tod oft von deinem rätselhaften Verschwinden erzählt...“
Nie sollte Alesh verstehen, was an diesem Tag, in diesen Augenblicken wirklich geschah.
Denn bei diesen Worten verging Ablo und zerfiel zu Staub. Wind kam auf und trug die feinen Körner weit fort. Die Überreste des Schmieds verteilten sich auf dem Feld außerhalb Turs, wo dessen Seele bis heute als gern gesehener Gast auf den Festen der Elfen tanzt.
© Michael Trestl