Peter Mair
Das Foto

Die Tür flog aus den Angeln.
Was Elias Jung ehrlich gesagt etwas erstaunte, denn sie war das einzig stabile in dem Dreckloch.
Die eigentliche Überraschung aber war der schneeweiße Pit Bull, der Elias auf den Boden warf und ihn so freundlich anknurrte, dass noch drei Ecken weiter die Leute von der Straße flüchteten.
Steroide sorgten dafür, dass der Köter ohne größere Probleme bei dem Zirkus in Pamplona hätte mitmachen können. Wäre allerdings ein Nachteil für die Spinner, die sich dort als Stierkämpfer ausgeben.
„Mein Geld.”, flüsterte das knochendürre Männchen im Armani Anzug, das hinter dem Pit Bull her wackelte.
Der Anzug passte dem Männchen so perfekt, dass ihm Armani persönlich den Fetzen vom Leib gerissen hätte, um ihn der nächstbesten Vogelscheuche umzuhängen.
Seine Augen staubten wüstengrau. Erinnerten an eingeschlagene Neonlichter einer aufgelassen Striptease Bar.
Noch nicht einmal die Aussicht auf einen Rotschopf, der dem Männchen unter dem Weihnachtsbaum die Eier leckte, würden diese Augen zum Leuchten bringen.
Vor sechs Wochen flehte der Anzug Elias an die 50 Riesen zu nehmen.
Was hatte er erwartet?
Dass Elias die Scheine auf den Schreibtisch stapelte und sie anglotzte.
Die Hälfte von dem Geld steckte in der Einbauküche seiner Frau Ella. Und den Rest der Lappen schnappte sich die Begabtenschule der Zwillinge Lisa und Lena. Mit dem Versprechen die Mädchen in Genies zu verwandeln.
Sah nun mal so aus, als hätten sich die 50 Riesen in Luft aufgelöst.
War ohnehin Elias Plan, die Kohle zu behalten. Wäre nicht das erste Mal, dass er jemanden mit leeren Taschen zurück ließ.
Um ehrlich zu sein, lebte Elias von dieser Art Geschäften.
Nur seine Frau und die Zwillinge würde das nie erfahren. Die glaubten an den Weihnachtsmann und das sie Elias mit dem Verkauf von Versicherungspolicen über die Runden brachte.
Wäre ein Verbrechen ihnen diesen Glauben zu nehmen.
„Ich sehe es dir an. Nicht mal die 30 Prozent hast du.”, hauchte der Anzug und blies Elias seinen Zimt Kaugummi Atem ins Gesicht.
Elias nickte. Weder der Anzug noch der Pit Bull hätten ihm seine üblichen Ausreden abgekauft.
„Was fange ich bloß mit einem Stück Scheiße wie dir an?”, wisperte der Anzug.
„Wie wär’s, wenn sie mir noch eine Woche geben.”, erwiderte Elias.
„Was siehst du, wenn du mich anglotzt?”, fragte der Anzug.
Elias hielt vorsichtshalber die Klappe.
„Einen fetten Kerl, mit Schnapsnase und langem weißen Bart.”, fuhr der Anzug fort. „Siehst du so jemanden. Denkst du vielleicht ich bin der Scheiß Weihnachtsmann, Arschloch?”
Der Anzug schnipste mit den Fingern und träge rollte sich der Pit Bull von Elias Brust. Der Köter machte keine Anstrengungen sich zu beeilen. Er hielt noch nicht mal beide Augen offen. Für ihn war Elias so gefährlich, wie eine tote Ratte.
Außerdem schien der Köter zu spüren, dass Elias zwar ein Betrüger, ein Trickser und noch ein paar andere Dinge war. Aber zum Kämpfer taugte Elias kein bisschen.
Sein Körper gab es einfach nicht her. Seit seiner Heirat glich er einer Tonne auf spindeldürren Beinen.
„Ist heute dein Glückstag.”, flüsterte der Anzug.

„Glück?”, dachte Elias, während er die Andreas Hofer Straße runter marschierte.
War dieser Fotoapparat tatsächlich so etwas wie Glück?
Der Apparat bot ihm zumindest die Möglichkeit die 50 Riesen zu behalten.
Er sollte zufrieden sein. Nur fühlte er sich nicht so. Denn die Geschichte mit dem Foto hörte sich zu abgedreht an. Wer um Himmels willen lässt 50 Riesen für ein Foto springen?
„Nicht groß darüber grübeln…”, dachte Elias. „…ist bloß ein Scheiß Foto. Das Motiv bewegt sich noch nicht mal.”
Trotzdem ließ ihn dieses miese Gefühl nicht los.
Um halb drei würde das Mädchen lange genug tot sein, damit sich das Licht auf ihrer Haut spiegelte. Dann besitzt der Tod seinen größten ästhetischen Wert, behauptete zumindest der Anzug.
Elias hastete weiter. Viel zu schnell. Bestimmt würde er um zwei Uhr dort sein.
Selbst wenn er früher in die Anichstraße gelangte. Was sollte er dann tun?
Das Mädchen retten.
Elias mochte diesen Gedanken nicht. Weil er zu nichts führte. Denn eines war glasklar. Ohne ein Foto von dem toten Mädchen würde ihm der Anzug keine 50 Riesen schenken.
Wie aus dem Nichts tauchte vor ihm das renovierte Gründerhaus aus dem 18. Jahrhundert auf. Darin wartete sein Fotomotiv.
Die drei Stufen hinauf zur Eingangstür sahen aus, als hätte man sie extra für ihn gekehrt und mit einem nach Zitrone stinkenden Reinigungsmittel gescheuert.
Rund herum auf der Straße verfaulten Kastanienblätter. Und an den Eingangstüren der benachbarten Häuser webten Spinnen ihre Netze.
Alles in Elias schrie zu verschwinden.
Er konnte die 50 000 auf andere Art besorgen.

„Gibt keinen anderen Weg.”, dachte Elias. Zumindest ihm fiel keiner ein. Und das bedeutete gleichviel wie schieß das Foto.
Er schlich durch den Kellergang und mit jedem Schritt leuchtete das Decken licht heller auf. Besser er wartete, bis sich seine Augen daran gewöhnten.
Nur hätte er dann keine fünfzehn Minuten vor dem Haus herum trödeln dürfen.
Außerdem warum sollte er warten?
Der Mörder wäre bestimmt über alle Berge. Das hatte ihm der Anzug versichert.
Niemand war hier. Mal abgesehen von der Leiche. Und Elias.
Die meisten von seinen Bekannten würden sich jetzt aus dem Staub machen. Die kämen nicht mal auf die Idee in Richtung eines Toten, der nicht zwei Meter unter der Erde lag, zu spazieren.
Hier unten stank es nicht nach fauliger Luft, wie Elias erwartet hatte. Es roch mehr nach billigen Duftkerzen.
Nur die eiskalte Luft die ihm ins Gesicht blies, passte nicht dazu. Sollte wahrscheinlich verhindern, dass die Leiche stinkt.
Mit jedem Schritt krallten sich seine Finger fester um die Kamera, als hätte er Angst, das von den Wänden zurückfallende Echo könnte sie ihm entreißen.
Weiter vorne, endete der Gang und die Tür eines Atomschutzraumes grinste ihn an.
Noch grelleres Licht rann aus dem Türspalt.
Elias schob sich die Kamera vor die Augen, als könnte sie ihn davor schützen.
Aber das brauchte sie nicht. Denn Elias würde durch den Türspalt huschen, die Kamera auf die Leiche richten, abdrücken und verschwinden.
Dabei konnte nichts schief gehen.
Er zwängt sich durch den Spalt. Der Geruch von Lackfarben schoss ihm in die Nase, als wäre die Atomschutztür vor zwei Stunden gestrichen worden.
Plötzlich packte ihn etwas am Oberarm und zog ihn nach innen.

„Was denkst du dir?”, schrie die Tenorstimme, die jeden Opernsänger reich gemacht hätte. „18 verfickte Minuten zu spät zu kommen.“
Elias musterte den Kerl, der an seinem Oberarm zerrte. Er war kein Mädchen und er war auch nicht tot. Wer zum Teufel war der Wixer?
Jedenfalls sah er so aus, als wäre er um die Dreißig. Früher hatte er sicher mit einem Lächeln jede zweite Frau dazu gebracht ihm einen zu blasen.
Heute würde ein Lächeln auf seinem aufgeschwemmten Gesicht nicht mal eine Nutte in die Nähe seiner Eier bringen.
Seine Augen glänzten wie schmutziger Schnee. Zuviel Alkohol. Zuviele Drogen. Oder einfach zu viel Leben. Wahrscheinlich eine Mischung aus allen dreien hatte ihn zu früh alt werden lassen.
Das beantwortete aber nicht die Frage, wer war der Wixer?
Elias dachte nach. Ziemlich schnell. Selbst wenn er jahrelang Zeit gehabt hätte, wäre er auf die immer gleiche Antwort gestoßen.
Der Wixer war der Mörder.
Nein, das war er nicht. Denn keine fünf Meter von Elias entfernt lag auf einem rosa Bett ein Mädchen.
Ein lebendiges Mädchen.
Nicht das Elias nicht froh darüber gewesen wäre. Im Gegenteil gab nichts Großartigeres als ein lebendes Mädchen.
Nur würden jetzt die Dinge etwas komplizierter werden.
Strohblondes Haar fiel dem Mädchen ins Gesicht. Ihre Augen strahlten blauer, als ein sonniger Wintermorgenhimmel. Wo hatte Elias diese Augen schon gesehen?
„Sollte sie nicht tot sein?”, fragte Elias.
„Wer sagt denn so was?”, antwortete der verblichene Schönling.
„Die Leute, die mich schicken.”, sagte Elias und hob den Fotoapparat, als würde das etwas erklären.
Der Schönling streckte seine Hand aus und sagte, „Magnus. Freut mich, dass wir diese Sache gemeinsam durchziehen.”
Bevor Elias etwas anderes tun konnte, als überrascht auszusehen, packte Magnus die Kamera und knallte sie auf den Boden. Der Fotoapparat zersplitterte. Die Chancen damit ein Foto zu schießen, war eine Milliarde zu eins.
„Scheiße!!”, schrie Elias. „Wie soll ich so fotografieren.”
Magnus starrte ihn an, als könnte er nicht verstehen worum es ging.
„Ist doch alles da.”, kicherte Magnus und deutete auf die drei Scheinwerfer, die grelles Licht auf das Bett spuckten und einen unangenehmen, nach verbranntem Plastik stinkenden Geruch verbreiteten.
Hinter den Scheinwerfern wartete eine 35 mm Kamera, wie sie Elias aus Making of Berichten kannte.
„Sehen wir zu, dass wir die Show in den Kasten kriegen.”, sagte Magnus.
Elias Hirn arbeitete auf Hochtouren. Brauchte es aber nicht. Denn es war sonnenklar was hier ablaufen sollte.
Magnus tötete das Mädchen und Elias filmte ihn dabei.
Nur diese ganze Filmerei stellte ein neues Geschäft dar. Ein Geschäft für das man wesentlich mehr als 50 Riesen bekommen sollte.
„Wenn ich mit der Kamera filmen soll…”, sagte Elias. „… will ich mehr Geld.”
„Aber Dummchen…”, sagte Magnus, als hätte er es mit einem zurückgebliebenem Kind zu tun. „Ich stehe hinter der Kamera.”
Elias starrte ihn an.
Wer nicht hinter der Kamera stand, der tötete. Gab nicht besonders viel daran herumzudeutelnd.
„Ohne Geld mache ich es nicht.”, sagte Elias.
Gefiel Magnus nicht besonders, wie Elias mit ihm redete. Deshalb zog er die Smith & Weston 32 aus der Tasche und deutete damit Richtung Bett.
„Sollte nicht ich die Waffe haben?”, sagte Elias.
„Ausziehen.”, sagte Magnus.
Elias bewegte sich keinen Millimeter. Er fühlte sich, als hätte man ihn während eines Tornados vor die Tür gesetzt.
„Wie lange denkst du dauert es an einem Bauchschuss draufzugehen?“ fragte Magnus und zielte mit der Smith & Weston auf Elias Unterleib.
Ganz egal wie lange es braucht. Am Ende stirbt man daran.
Elias roch seine Angst süß und heiß, wie eine Hexe am Scheiterhaufen.
Langsam knöpfte er sein Hemd auf.
Es würde vorbei gehen. Und danach würde er nie wieder daran denken. Dann ist es nie passiert.
Er schlüpfte aus seinen Levis.
Magnus schwang sich hinter die Kamera und befahl, „Besorg es ihr.”
Elias legte sich neben das Mädchen. Es trug nichts weiter, als einen rosa Slip. Es hatte noch nicht einmal anständige Brüste.
Er würde dabei an Ella, seine Frau denken.
Die Scheinwerfer brannten auf der Haut. Schweiß perlte auf seiner Stirn. Rann in seine Augen.
Elias beugte sich über das Mädchen. Ihre Augen leuchteten winterhimmelblau.
Wo hatte er diese Augen gesehen?
„Es dauert nicht lange.”, hauchte das Mädchen.
Elias Finger streichelten über ihren Oberarm. Ihre Haut fühlte eiskalt an, wie tief gefroren. Es ekelte ihn an.
Er würgte. Magensäure schoss ihm in die Mundhöhle und um ein Haar hätte er sich auf ihrem nackten Oberkörper übergeben. Er schluckte die Säure runter.
„Denk an Ella! Denk an Ella!!”, ermahnte er sich.
Das Mädchen streichelte über seinen Nacken und zog ihn zu sich.
Elias hustete. Presste beide Hände auf die Lippen. Er durfte nicht kotzen.
„Ist nur ein kleiner Schmerz.”, wisperte das Mädchen.
Ihre Augen leuchteten tiefblau, wie kurz vor einem Wintersturm.
Ihr heißer Atem schlich über seinen Hals. Er roch nach Diesel, Schmieröl und Rost.
Ihre Hand tastete über seinen Hals. Ganz zärtlich. Mit einmal drückte sie zu. Fixierte Elias Kopf und schnellte vor.
Sie riss den Mund auf. Speichelfäden zogen sich von der Unterlippe bis zur Oberlippe.
Rostige Eisenschrauben, die früher den Antrieb einer Lokomotive zusammen hielten, bohrten sich durch ihren Kiefer. Allerdings hatte sich jemand die Mühe gemacht die Schrauben zuzuspitzen.
Die Lokomotivezähne rasten auf Elias Hals zu. Schon berührten sie seine Haut.
Er riss den Kopf herum. Er hämmerte mit den Ellbogen, die Arme des Mädchens zur Seite. Es hörte sich an als würde er morsche Zweige von einem toten Apfelbaum reißen.
„Hab der Schlampe die Arme gebrochen!!”, kicherte Elias.
Hier unten klang sein Lachen allerdings wie der verzweifelte Schrei eines angefahrenen Rehs.
Er starrte die Arme des Mädchens an. Ihre Hände umfassten nicht mehr seinen Hals. Aber ihre Arme sahen nicht im Mindesten danach aus, als wären sie gebrochen.
Schnell blickte er an sich herunter. Der rechte Unterarm stand im schrägen Winkel von seinem Körper ab. Sein Ellbogen war hinüber.
Die Lokomotivezähne krachten keine zwei Millimeter neben seinem Ohr zusammen.
Elias stieß sich mit dem gesunden, linken Arm ab. Rutschte von der Seidendecke und knallte auf den Betonboden.
Nicht unbedingt das, was sein rechter Arm jetzt brauchte. Goldene Schmerzpfeile bohrten sich durch seine Augen, spießten sein Hirn auf, lösten sich auf und ließen Elias in der Finsternis zurück.
Das Dunkel war gut. Es beschütze ihn und hielt die Angst fern.
Nur dieser Ton hörte sich ekelhaft an, als würden Papageien ihre Schnäbel in frisch geschlachtete Kälber stecken und singen.
Dieses widerliche Geräusch wuchs an, wurde lauter und zwang Elias seinen neuen Freund die Dunkelheit zu verlassen.
Magnus wirbelte die Kamera herum. Dieser widerwärtige Ton, der Elias zurück geholt hatte, kam aus Magnus Mund.
Elias war nur nicht klar was er bedeutete. Wollte Magnus ihn anfeuern oder lachte er über ihn?
Das Mädchen schlich auf allen vieren, wie ein Leopard übers Bett. Keine zehn Sekunden dann wäre sie bei ihm.
Elias spähte zur Tür. Könnte er es bis dorthin schaffen?
Zumindest stand seine Chancen so gut, dass jeder anständige Buchmacher Wetten darauf annehmen würde.
Er rappelte sich auf. Unterdrückte den Schmerz.
Das Mädchen folgte ihm. Es stank nach brennenden Kohlen und Wasserdampf.
Er würde hier unten sterben. Aber wenigstens ein paar Sekunden wollte er noch rausschlagen.
Also wich er zurück.
Das Mädchen sprang. Krachte gegen seine Brust.
Elias ging zu Boden. Sein Kopf knallte auf den Beton. In dem Moment bemerkte er es.
Hinter der Atomschutztür lehnte eine Bohnenstange. Wenn er die hätte, könnte er sich wehren.
Das Mädchen hämmerte seinen Schädel auf den Boden.
Er schrie.
Seinen gesunden Arm aber streckte er aus.
Die Schmerzen in seinem Kopf schaufelten Dunkelheit über ihn, wie ein Totengräber, der noch eine Reihe von Leichen unter die Erde zu bringen hatte.
Die Finsternis fühlte sich gut an, wie das Wiedersehen eines alten Freundes. Diesmal schätzte er würde sie ihn nicht mehr verlassen.
Seine Finger glitten Zentimeter für Zentimeter vorwärts, wie etwas, das längst nicht mehr zu ihm gehörte.
Plötzlich berührten sie Holz. Die Bohnenstange.
„Es geht schnell.”, flüsterte das Mädchen, während sich ihre Lokomotivezähne in Bewegung setzten.
„Tschu-Tschu-Tschu!!!”, gab das Mädchen von sich.
Erst langsam, dann schneller und schneller.
„Erinnerst du dich?”, wisperte sie, unter dem Getöse ihrer Zähne.
Es gab nichts in Elias Vergangenheit, was ihm besonders wichtig wäre. Vor allem nicht jetzt wo sich seine Hand um die Bohnenstange schloss. Ihre Spitze fühlte sich stumpf an.
„18. März.”, sagte das Mädchen.
Elias hob die Bohnenstange hoch. Wie ein zu langer Speer wippte sie hin und her. Eine halbe Ewigkeit fürchtete er, er könnte sie nicht unter Kontrolle bringen.
Die Lokomotivezähne zerschnitten Elias Haut. Blut rann seinen Hals entlang. Er atmete ihren Kohle und Dampfgeruch ein. Es war vorbei.
Nur dann passierte etwas viel schlimmeres.
Elias Erinnerung sprang an.
18. März. War nicht besonders lange her.
Die Lokomotivezähne zerfleischten seinen Hals. Lange würde es nicht mehr dauern, dann würden sie seinen Schädel zermanschen.
Elias brüllte. Hörte sich allerdings nicht nach einem Wort an.
Vielleicht schrie er auch, weil sich die Spitze der Bohnenstange in den Rücken des Mädchens bohrte.
Augenblicklich stockten die Lokomotivezähne. Dann ratterten sie und zischten, als hätte jemand eine Eisenstange oder was auch immer in ihr Getriebe geworfen.
Elias drehte die Bohnenstange wie wild in den Rücken des Mädchens. Was sich anhörte, wie ein Kind das in Gummistiefeln durchs Moor hüpfte. Plop! Plop! Plop!
Das Mädchen riss ihr Maul auf und spendierte ihm ein Abschiedslächeln. Im selben Moment stoppten die Lokomotivezähne.
Jetzt war sie wieder nichts weiter, als ein Mädchen.
Hätte es Elias nicht früher auffallen müssen? Die winterhimmelblauen Augen hätte er erkennen müssen.
Dieses Mädchen hatte er am 18. März gesehen. Nur steckte damals keinen Bohnenstange in ihrem Rücken und die Lokomotivezähne hatte sie auch noch nicht.
Aber es war dasselbe Mädchen. Und Elias Jung hatte am 18. März dieses Mädchen vor den Regionalzug mit der Nummer 45893 gestoßen.
Die Zeitungen machten eine große Geschichte daraus. Dabei war es nichts weiter als ein Stoß. Den Rest erledigte ohnehin die Lokomotive.
Elias stieß das Mädchen von sich und rappelte sich auf.
Hinter der Kamera kicherte Magnus, als hätte seine kleine Freundin keine Bohnenstange durchbohrt.
Elias wirbelte herum. Plötzlich erstarben seine Bewegungen.
Magnus Gesicht sah verändert aus, als wäre er plötzlich hundert Jahre alt. Ruß verschmierte seine Wangen.
Kohlestaub verdreckte seinen dunkelblauen Anzug, über dessen linker Brusttasche ein Schild mit der Aufschrift Schaffner genäht war.
Es war länger her. Aber auch diesen Mann hatte Elias vor den Zug gestoßen.
Elias zog die Bohnenstange aus dem Mädchen und schleuderte sie Richtung Magnus. Scheiß drauf, ob er ihn traf, oder nicht.
Er stolperte aus dem Atomschutzraum, rannte nach oben und stieß die Eingangstür auf.
Kalte Luft schlug ihm entgegen. Und diese Luft roch so herrlich nach Leben, dass Elias Lippen zitterten und er lächelte.
Von hier aus wären es bloß eine paar Schritte bis zum Bahnhof. Und in einer halben Stunde fährt der Expresszug „Johan Strauß” durch.
Der Gedanke an den Expresszug machte ihn ganz kribbelig. Könnte heute noch ein besonderer Tag werden.
„Eigenartig…”, dachte er. „Was machen denn all die Leute hier vor dem Haus?”
Aus den umliegenden Straßen und Gasse eilten mehr und mehr Menschen herbei. Und unter ihnen war das Männchen im Armani Anzug, das ihn hierher geschickt hatte. Selbst der schneeweiße Pit Bull trotte neben ihm her.
Etwas stimmte mit ihnen nicht. Sie alle kamen auf Elias zu. Und sobald sie nahe genug waren zogen sie die Lippen auseinander und im Sonnenlicht glitzerten ihre Lokomotivezähne.
„So viele?”, dachte Elias. „So viele habe ich vor den Zug gestoßen.”





Letzte Aktualisierung: 27.03.2024, 15:56 Uhr
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