Aileen O’Grian
Heimfahrt am Totensonntag
Wie jedes Jahr war ich zum Totensonntag zu meiner Mutter gefahren. Mal wieder war es ein kalter, regnerischer Tag. Statt spazieren zu gehen, saßen wir im Café, in dem vor Jahren die Trauerfeier stattgefunden hatte, tranken Schokolade und aßen Torte.
Mutter erzählte von früher, und ich antwortete wie üblich mit einem Kopfnicken oder „Ja, ja!“. Mehr brauchte sie nicht, um ununterbrochen mit den alten Geschichten, die ich schon tausendmal gehört hatte, fortzufahren.
Erst spät konnte ich mich loseisen. Normalerweise wäre ich erst am Morgen gefahren, doch am nächsten Vormittag hatte ich eine wichtige Besprechung, auf die ich mich noch vorbereiten musste.
Schon bald hörte ich im Verkehrsfunk von einem großen Stau. Das Navigationsgerät ließ mich aber unbeirrt auf der Autobahn. Inzwischen war es nicht nur dunkel und regnerisch, sondern Nebel stieg auch noch aus den Feldern auf. Der Scheinwerfer leuchtete in eine weißliche Wand. Ich fuhr immer langsamer, tastete mich vorwärts.
Schließlich wies das Navigationssystem mich von der Autobahn auf eine Bundesstraße. Zuerst fuhren noch eine Reihe Wagen vor mir und ich hing mich an die Rücklichter eines LKWs. Doch leider fuhr der schon in der nächsten Stadt ab und ich orientierte mich nur noch von Begrenzungspfosten zu Begrenzungspfosten. Bei dem Tempo konnte ich froh sein, wenn ich kurz nach Mitternacht daheim ankommen würde.
Endlich klarte es ein bisschen auf und ich erhöhte mein Tempo auf 50 km/h. Plötzlich tauchte vor mir ein schwarzer Schemen auf. Ich machte eine Vollbremsung und geriet ins Schleudern. Bevor ich in den Seitenstreifen rutschte, lief eine zweite Person über die Fahrbahn. Abrupt blieb der Wagen stehen. Ich krallte mich noch immer an dem Lenkrad fest und brauchte eine Weile, um mich zu fassen. Ich lebte und erwischt hatte ich auch niemanden. Meine Gedanken arbeiteten erstaunlich klar.
Erst einmal befahl ich mir, tief durchzuatmen, dann löste ich langsam meine Hände vom Lenkrad. Der Motor war ausgegangen. Ich öffnete die Tür und schaute hinaus. Der Baum links von mir stand bestimmt einen halben Meter entfernt. Der konnte mich also nicht so plötzlich gestoppt haben. Ich stieg aus, meine Schuhe versanken im Matsch. Mit einer Hand hielt ich mich am Auto fest, als ich es umrundete. Nichts. Der weiche Boden musste mich gestoppt haben. Die Räder standen ziemlich tief im Morast. Aber das Auto war heil geblieben.
„Hallo! Hallo! Ist hier jemand?“
Niemand antwortete. Wer war bloß so plötzlich über die Straße gelaufen? Den Umrissen nach musste die erste Person eine Frau gewesen sein, gefolgt, oder gar verfolgt, von einem Mann. Doch warum waren sie weitergelaufen, ohne sich um mich zu kümmern?
Ich stieg wieder ein, konnte den Wagen aber nicht zum Rollen bringen. Seufzend stieg ich wieder aus und legte meine Fußmatten unter die Hinterräder. Langsam, ganz langsam gab ich Gas und hatte Glück. Die Räder griffen und ich rollte auf die Straße zurück.
Bevor ich meine Matten wieder einsammelte, rief ich erneut. Diesmal rechnete ich nicht mehr mit einer Antwort. Im Licht der Kofferraumlampe sah ich meine verschmierte Hose und Jacke. Mit ein paar Taschentüchern versuchte ich den schlimmsten Schaden zu beheben. Ohne allzu viel Erfolg.
Ein Schauer lief mir über den Rücken. Langsam fing ich an zu spinnen. Diese einsame Gegend und der Nebel waren einfach zu viel für mich. Ich stieg wieder ein und stellte das Radio lauter. Dann fuhr ich los. In der Ferne tauchte ein Scheinwerfer auf. Als er näher herankam, blendete ich meinen Nebelscheinwerfer aus. Plötzlich sprangen ein paar Meter weiter erneut mehrere Schatten auf die Straße. Diesmal reagierte ich schneller und bremste kontrolliert ab. Aber das entgegenkommende Auto verlor die Kontrolle und schleuderte mir entgegen.
Im letzten Augenblick lenkte ich auf die Gegenfahrbahn und kam knapp vor dem Straßengraben zum Stehen. Im Rückspiegel sah ich, wie der andere Wagen von der Fahrbahn abkam, gegen einen Baum prallte, sich wegdrehte und schließlich an einem zweiten Baum hängen blieb.
Ich stieg aus und rief laut: „Hallo, hallo, wo seid Ihr? Kommt und helft.“ Dann holte ich meine Taschenlampe aus dem Kofferraum und eilte zu dem verunglückten Wagen. Der Motor lief noch und das Licht brannte. Ich versuchte die Tür zu öffnen, aber sie klemmte. Alles Rütteln half nicht. Die Fahrerin rührte sich nicht. Ich leuchtete hinein und zuckte vor dem Ausdruck im Gesicht der Frau zurück. „Ich hole Hilfe“, rief ich ihr laut zu.
Schnell hastete ich zu meinem Auto zurück und kramte in meiner Handtasche nach dem Handy. Ich erhielt keine Verbindung. Fluchend warf ich es auf den Beifahrersitz und startete wieder. Zum Glück fand ich bald ein einsames Haus am Waldrand.
Ich klingelte Sturm und bollerte gegen die Tür. „Hilfe, Hilfe“, schrie ich. Langsam wurde ich richtig hysterisch.
Ein grauhaariger Mann öffnete die Tür.
„Was haben Sie? Sie sehen ja aus, als ob sie einem Gespenst begegnet wären.“
„Einen Unfallwagen, schnell! Da!“, ich wies in den Wald. „Ein verunglückter Wagen. Ich ... ich k-konnte die T-Tür nicht öffnen.“ Meine Stimme versagte, ich schluckte, konnte die Tränen aber nicht mehr unterdrücken, sondern brach in lauten Schluchzen aus.
Der Mann hatte aber offenbar trotzdem begriffen. Er hastete zum Telefon und rief die Retter an.
Dann führte er mich in die Stube, hüllte mich in eine Decke und brachte mir heißen Kaffee.
Während der ganzen Zeit redete er. Aber ich nahm ihn gar nicht wahr. Erst als er mir eine dampfende Tasse reichte, sah ich wieder auf und umschloss die Tasse mit beiden Händen.
„Hier passieren viele Unfälle. Die Autofahrer fahren mit überhöhter Geschwindigkeit in die Kurve hinein.“
„Da waren Schatten. Sie sprangen plötzlich über die Straße.“
„Rehe. Es gibt hier viel Wild.“
Nachdem ich den Kaffee getrunken hatte, hörten wir das Martinshorn. Ich stand auf. Der Mann begleitete mich und ließ mich in sein Auto steigen. Ohne zu fragen, fuhr er zur Unfallstelle zurück. Inzwischen lichtete sich der Nebel etwas.
Der Notarztwagen stand schon an der Unglücksstelle. Gleich darauf trafen zwei Feuerwehrzüge ein.
„Der Airbag hat nicht ausgelöst“, hörte ich einen Sanitäter sagen. Sie hatten die Seitenscheibe eingeschlagen, sich dann aber wieder zurückgezogen.
Die Feuerwehrleute brauchte ziemlich lange, bis sie die Frau aus dem Wrack befreit hatten. Der Notarzt beugte sich über sie und bearbeitete sie mit dem Defibrillator. Sehr engagiert wirkte er nicht.
Inzwischen traf auch Polizei ein. Die zwei Beamten hörten mir genau zu, als ich den Unfall schilderte, noch aufmerksamer wirkten sie, als ich ihnen von den ersten Schatten ein paar Kilometer von hier erzählte.
„Sie sollten sich erst einmal erholen. Nehmen sie sich ein Hotelzimmer und fahren morgen nach Hause“, schlug einer vor.
„Lassen Sie sich vom Arzt ein Beruhigungsmittel geben“, sagte der zweite Polizist.
„Aber ...“, wandte ich ein.
„Sie können bei mir schlafen“, schlug mein Fahrer vor.
Ein Polizist nickte. „Das ist das Beste. Bleiben sie bei Neumanns, und fahren sie morgen weiter.“
Ich ließ mich überreden und gemeinsam stiegen wir wieder ins Auto. Diesmal sah ich die drei Kreuze am Straßenrand. Blumengeschmückt, ein kleines Friedhofslicht brannte.
„Vor zehn Jahren sind drei Kinder von einer Feier nach Hause gelaufen und hier überfahren worden. Wenn der Autofahrer nicht geflüchtet wäre, statt zu helfen, hätten sie überlebt“, sagte Gerd Neumann mit belegter Stimme.
Ich schwieg. Erst als wir in seine Hofeinfahrt einbogen, frage ich. „Und die ersten Schatten?“
„Die Mutter ist mit dem Schicksalsschlag nicht fertig geworden, sie war nicht mehr normal, genau ein Jahr später verschwand sie nachts. Ihr Mann bemerkte es und suchte sie. Beide wurden zwei Kilometer von der ersten Unglücksstelle getötet.“
Wieder lief ein Schauer über meinen Rücken. „Ich glaube, ich fahre weiter“, murmelte ich.
„Sie können nichts dafür, sonst hätten Sie heute Abend nicht überlebt. Aber eines Tages wird es noch den Richtigen erwischen.“
Vor meinen Augen drehte sich alles. Gerd Neumann griff nach meinem Ellbogen und zog mich ins Wohnzimmer zum Sofa. „Sie haben Hilfe geholt, dafür danke ich Ihnen“, hörte ich wie durch Nebel. „Manchmal haben wir hier Funklöcher, dann gibt es keine Verbindung für das Handy.“
Später zeigte mir Frau Neumann ein Schlafzimmer und das Badezimmer.
Am nächsten Morgen schien die Sonne. Vom Frühstückstisch sah ich über ein kleines Tal und die bewaldeten Hügel auf der anderen Seite.
Frau Neumann brachte den Kaffee. Ich drehte mich zu ihr, dabei fiel mein Blick auf ein großes Foto neben einem Sekretär. Ein Ehepaar mit drei halbwüchsigen Jungen. Der Mann hatte Ähnlichkeit mit meinem Gastgeber.
„Unser Sohn mit seiner Familie.“
Letzte Aktualisierung: 31.10.2024, 13:52 Uhr
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