Johannes Tosin
Hundert Leben

Im Fernsehen lief ein Abenteuerfilm. Ein Holzschiff segelte durch den Atlantik. Die Seemänner hielten es am Laufen. „So war es nicht“, sagte der Vater nach einigen Minuten zum Sohn. „Es war harte Arbeit und gefährlich, weil das Deck und die Masten oft glitschig waren. Je länger die Fahrt dauerte, desto schlechter wurde die Verpflegung. Manchmal gab es gar nichts zu tun, dann strickten manche.“ „Strickten?“, fragte der Sohn. „Ja genau, strickten“, bekräftigte der Vater. „Bist du dir sicher?“, ließ der Sohn nicht locker. „Woher willst du das denn wissen?“ Der Vater dachte nach. „Ich weiß nicht woher, aber ich weiß ganz bestimmt, dass es so war.“
Der Film lief weiter. Die Schauspieler waren fast immer sauber. In Wirklichkeit aber war es anders gewesen, wusste Hugo. Als ob er das Salz schmeckte und den Wind im Gesicht spürte, das Schiff schwankte und Wasser löste sich von Wellenkämmen ab und sprühte über die Planken.
Längst schon war der Film zu Ende, er lag neben seiner Frau im Bett, er wollte nicht wie üblich noch ein wenig lesen, er schloss die Augen, nicht um einzuschlafen, und war wieder auf hoher See.
Schließlich schlief er doch ein. In den über die Nacht verteilten Träumen war er weit weg von hier, und es wirkte sehr fremd, aber nach dem Aufwachen am Morgen erinnerte er sich an nichts davon mehr. Es war ein Arbeitstag, und bald stand er sicher auf seinen beiden Beinen. Er leistete seinen Beitrag, gab, was von ihm verlangt wurde – und ein klein wenig dazu, um im Plus zu sein.
Abends spazierte er mit seiner Frau durch die grüne, sanft hügelige Gegend, wo ihr Haus lag. Sie betrachteten das Rot der Sonne, das sich ausdehnte und am Ende verschwand, der Tag glomm noch nach, und dann senkte sich die Nacht.
Da sah er eine Gruppe von Männern in altertümlichen Gewändern, die sich an den Händen haltend in einer Reihe gingen. Sie ächzten, stöhnten, wehklagten, teils waren Binden über ihren Augen. Keine Fackeln. Es waren Geblendete. Das glühende Schwert hatte ihre Augen zerstört, eine übliche Strafe für die Verlierer der Schlacht, des Krieges in jenen Zeiten.
Hugo wollte gerade: „Meine Herren, kann ich Ihnen behilflich sein?“ rufen, da verschwanden sie. Er sah noch genauer hin, aber die Männer tauchten nicht wieder auf. Dafür blickte ihn seine Frau jetzt seltsam von der Seite an: „Schatz, was ist los? Ist etwas nicht in Ordnung?“ Er schüttelte den Kopf, keine Probleme, alles okay.
Die Lage beruhigte sich wieder. Das einzige Bild, das blieb, war das gegenwärtige.
Aber diese Erlebnisse von sich überschneidenden Zeitebenen kamen immer wieder. Etwas hatte in Hugo aufgemacht – vielleicht kann man es so ausdrücken.
Bei einem Seminar von seiner Firma aus war er in der Bundeshauptstadt. Er fuhr mit der U-Bahn bis in die Nähe seines Hotels. Und er wusste, weil er es sah, dass dort früher Weiden, Felder und Wald waren, tiefstes Umland, weit weg von der Stadt und vom Geschehen. Dieser merkwürdige Rinnsal im riesigen Bachbett, der dieser Stadt ihren Namen gab, war früher ein Fluss mit kurvigem Verlauf. Zur Schneeschmelze und bei heftigen Niederschlägen trat er regelmäßig über die Ufer und überschwemmte einen weites Gebiet. Da dies gegen die Idee einer Stadt war, sperrte man später den Fluss ein, praktisch und hässlich.
Für die Vergangenheit des regulierten Flüsschens musste man kein umgekehrter Prophet sein, die war logisch erklärbar, aber bei Hugo war es derart, dass er sich innerhalb dieses Landstriches befand, so kam es ihm vor, wie es damals gewesen war.
Woher das Ganze? Wieso all das? Eine Verwirrung war es nicht, Hugo war geistig stabil. Er konnte es sich schon denken, und auf einer Dienstreise durch das Kanaltal wurde es für ihn bestätigt.
Die Autostrada war eine Schneise im Wald, wo früher nur Wald war. Er roch die Holzkohle, seine Arme und Beine waren schwer, die Kinder halfen bei der Arbeit, die Frau bereitete die Polenta zu.
Er selbst war der Köhler, war er gewesen, im damaligen Leben. Und mit Fortdauer seiner Beobachtungen erfuhr er: Die Zahl der Menschen auf der Erde ist begrenzt. Das Leben eines Mannes, einer Frau beginnt ständig von Neuem, in Wahrheit ist es dasselbe Leben in anderen Körpern, mit anderen Gehirnen. Stirbt ein Körper, wird das Gedächtnis seines Gehirns gelöscht. Und das war bei Hugo der Fehler: Die verschiedenen Gedächtnisse waren durchlässig. Er erinnerte sich.
Das sollte nicht sein, doch dadurch kam er dahinter, wie dieses System funktionierte. Und er lernte auch, dass die Anzahl der Leben begrenzt war. Jeder Mensch hatte hundert zur Verfügung. Dann verschwand er endgültig, und ein neuer trat an seine Stelle.
Wie viele Leben Hugo schon verbraucht hatte, wusste er nicht, aber es mussten viele sein, achtzig vielleicht oder neunzig, er führte nicht Buch darüber, vielleicht auch schon neunundneunzig und dieses hier war sein letztes.





Letzte Aktualisierung: 14.04.2024, 14:42 Uhr
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